Zum Inhalt springen

Reiz und Reaktion (Frankfurter Rundschau, 29.04.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Reiz und Reaktion

Zur Diskussion um Action-Filme und Videospiele 

Frankfurter Rundschau, 29.04.2002

1977 erschoss der 15 Jahre alte Ronald Z. in Florida eine 82 Jahre alte Nachbarin. Die Tat ist heute längst vergessen, so viel mediale Aufmerksamkeit sie damals auch gebunden hat. Zum klassischen Reaktionsmuster ist jedoch die Verteidigungsstrategie des Anwalts Ellis Rubin geworden. Die Tat seines Mandanten begründete er vor Gericht mit „Fernsehvergiftung“. Z. habe infolge seiner „Fernseh-Krankheit“ lediglich das Drehbuch einer Fernsehserie nachgespielt.

Solche Schlussfolgerungen werden heute noch schneller gezogen. Sieben Stunden nach den ersten Meldungen über den Massenmord in Erfurt wurden in ersten Experten-Interviews Verbindungen zwischen Computerspielen und der Tat hergestellt. Weniger als 24 Stunden nach der Tat verlangte Kanzlerkandidat Edmund Stoiber das Verbot sogenannter Killerspiele. Am Tag darauf wusste die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ bereits: „Ein Computerprogramm der Firma Sierra Entertainment hat den Amokläufer von Erfurt trainiert“.

Ob nicht doch das Sportschießen im Schützenverein ein besseres Training war, weiß derzeit niemand. Ebenso wenig, warum Robert S. mordete. Fest steht, dass die Polizei bei der Durchsuchung der Wohnung „gewaltverherrlichende Computerspiele“ gefunden hat. Mitschüler haben ausgesagt, dass Steinhäuser gern „Counterstrike“ spielte. In diesem Spiel treten zwei Gruppen von übers Netz verbundenen Spielern gegeneinander an. Die einen in der Rolle von Terroristen, die anderen in der von Anti-Terror-Einheiten. Es wird gestürmt, geschossen und gesprengt. Man kann „Counterstrike“ als sportliche Auseinandersetzung betreiben. Viele Spieler tun das. Sie schließen sich zu Gemeinschaften – sogenannten Clans – zusammen, treffen sich oft auch außerhalb des Spiels und kämpfen ansonsten online so selbstverständlich wie manche Leute Kegeln gehen. Man kann „Counterstrike“ aber auch so modifizieren, dass die Spielfiguren realen Personen und die Spielfelder realen Räumen ähneln, um damit vielleicht ungesunde Phantasien auszuleben.

Dass solche Computerspiele nicht friedfertiger machen, steht fest. Ob sie aber Menschen gewalttätig machen, ist strittig. Seit Jahrzehnten. Die Medienwirkungsforschung hat bisher empirisch relativ eindeutig lediglich eine kurzfristige emotionale Erregung belegt. Studien über die Wirkung von Computerspielen sind noch rar. Überwältigend dagegen ist die Fülle von Studien zu Gewalt im Fernsehen. Über die hat der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Willbur Schramm 1961 den immer noch gültigen Satz geschrieben: „Für bestimmte Kinder, unter bestimmten Bedingungen ist bestimmtes Fernsehen schädlich. Für andere Kinder unter denselben Bedingungen, oder für dieselben Kindern unter anderen Bedingungen, ist der größte Teil des Fernsehprogramms wahrscheinlich weder schädlich noch besonders nützlich.”

Eine der erste Studien über gewalthaltige Computerspiele veröffentlichte 1984 Joseph Dominick, Professor an der „School of Journalism and Mass Communication“ der Universität von Georgia. Sein Fazit damals: „Das Datenmaterial deutet darauf hin, dass Videospiele weder die Bedrohung sind, die viele der Kritiker an die Wand gezeichnet haben, noch dass sie zwangsläufig ohne negative Konsequenzen bleiben.“ Eine neue Studie haben im vergangenen Jahr Clemens Trudewind und Rita Steckel von der Fakultät für Psychologie der Universität Bochum vorgestellt. Sie erforschten die Wirkung von drei unterschiedlichen Spielen auf 280 Kinder zwischen 8 und 14 Jahren. Auch bei ihnen heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse: „Gewalthaltige Computerspiele machen Kinder aggressiv – unter bestimmten Bedingungen.“ Eine dieser Bedingungen ist die Beziehung zwischen Kind und Eltern: „Die Unsicherheit der Eltern-Kind-Bindung geht mit geringer Empathiefähigkeit der Kindern einher. Das ist ein direkter Einfluss. Gleichzeitig geht auch ein hohes Ausmaß der Unsicherheit der Bindung mit positiver Bewertung von Aggression einher, die wiederum die Entwicklung der Empathiefähigkeit beeinträchtigt.“

Anders gesagt: Es kann sein, dass jemand durch Spiele wie „Counterstrike“ aggressiver wird. Denkbar ist allerdings auch, dass diese Kausalität in umgekehrter Richtung gilt. Vielleicht spielen Menschen aggressive Spiele aufgrund anderer Umstände. Gewaltkonsum wäre dann ein Symptom für persönliche Probleme.

All diese Ergebnisse und Vermutungen sagen nichts über die tatsächlichen Gründe für die Tat von Robert S.. Von allgemeinen Aussagen auf konkrete Einzelfälle zu schließen ist ebenso problematisch wie der umgekehrte Weg. Wissenschaftlich belegt ist auf jeden Fall, dass die Wirkung von medialer Gewalt komplexer ist als es in das Reiz-Reaktions-Schema mancher Wahlkämpfer passt.

Edmund Stoiber, Kanzlerkandidat und Ehrenmitglied der „Königlich privilegierten Feuerschützengesellschaft Wolfratshausen“, fordert jetzt „eine größere Intoleranz gegenüber der Darstellung und Verherrlichung von Gewalt“. Dass beides nicht dasselbe ist, weiß Stoiber. Aber selbst so viel Komplexität scheint zuviel zu sein. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Ergebnissen ist wohl nicht zu erwarten.

Natürlich ist eine Diskussion beispielsweise über die Effektivität der „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“ und der oft langwierigen Indizierungsverfahren bei der Bundesprüfstelle nötig. Mindestens ebenso nötig ist allerdings eine Diskussion über die Rolle der Schützenvereine. Nur haben die eine ungleich mächtigere politische Lobby. Vielleicht ist Stoibers Aussage ein Versuch, von diesem Aspekt abzulenken, beziehungsweise etwas Solidarität zu zeigen. Noch als bayerischer Staatsminister lobte Stoiber 1987 in seinem Grußwort zur Fahnenweihe der Wolfratshausener Schützen jene „Vereinigungen, die Geselligkeit, Brauchtum und den sportlichen Gebrauch der Waffen pflegten“.

Nichts wäre falscher, als den Schießsport jetzt mit demselben Populismus anzugehen wie Stoiber Computerspiele. Allerdings muss gefragt werden, warum Martin P. 1999 im bayerischen Bad Reichenhall vier Menschen mit den Waffen seines Vaters – eines Sportschützen – ermorden konnte. Es muss gefragt werden, warum Michael F. 2000 im bayerischen Brannenburg seinen Internatsleiter mit einer Waffe auf dem Arsenal seines Vaters – Mitglied von drei Schützenvereinen – umbringen konnte. Und es muss gefragt werden, warum der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei Erwin Huber das im vergangenen Jahr beim 50jährigen Jubiläum des Schützenbezirkes Niederbayern so kommentierte: „Gewalt bei Jugendlichen hat immer ein ganzes Bündel von Ursachen, die vielfach auch im unkontrollierten Konsum von Gewalt verherrlichenden und schwer jugendgefährdeten Videofilmen und von sogenannten Killerspielen liegen. Der Einfluss der Medien auf unsere Kinder und Jugendliche ist oftmals kontraproduktiv zu unseren Wertvorstellungen, die wir unseren Kindern vermitteln wollen, die gerade auch in den Schützenvereinen vermittelt werden.“

Letztendlich ist der für Robert S. leichte Zugang zu Schusswaffen über den Schützenverein ebenso wenig die Ursache für seine Tat wie das Spielen von „Counterstrike“. Warum ermordete S. 16 Menschen, anstatt mit jemandem über seine Probleme zu sprechen? Dass er die hatte, ist sehr wahrscheinlich. Seine Eltern hatten am Freitagmorgen gedacht, er würde an der Abiturprüfung teilnehmen. Aber das konnte der von der Schule Verwiesene nicht. Und weil er im Vorjahr durch die Prüfung gefallen war, stand er wahrscheinlich ohne jeden Abschluss da. Wer in Thüringen beim zweiten Versuch das Abitur nicht schafft, erhält nicht einmal einen Hauptschulabschluss. In den Vereinigten Staaten haben Schulen nach den Morden in Littleton mehr Conselor eingestellt. In Deutschland stehen einem Schulpsychologe mehr als 10000 Schüler gegenüber. In Skandinavien hingegen liegt das Verhältnis bei ungefähr 1 zu 3000.

Ein Mitglied der Charles-Manson-Gang rechtfertigte vor Gericht den Mord an Sharon Tate so: „Wir sind, wozu ihr uns gemacht habt. Wir sind mit Gunsmoke, Have Gun, Will Travel, FBI, Combat im Fernsehen aufgewachsen.“ Würde das stimmen, wäre in den Vereinigten Staaten heute kaum jemand am Leben.

 

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert