Zum Inhalt springen

Schauderschrift Comic Sans: Diese Zeichen hasst das Netz (Spiegel Online, 2.6.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Schauderschrift Comic Sans

Diese Zeichen hasst das Netz

Knuffig, kindlich, albern – die Schriftart "Comic Sans" polarisiert: Es gibt Protestaufrufe, Hass-Blogs und einen Online-Pranger für die schändlichsten Anwendungen. Dass Google die Kinderschrift nun in Anzeigen testet, findet sogar der Comic-Sans-Erfinder nicht so gut.

Spiegel Online, 2.6.2008

Manche Geschmacksverirrungen sterben nie aus: Herrenhandtaschen, bis
zur Wade hochgezogene weiße Joggingsocken zur kurzen Hose und witzig
gemeinte Schriftarten wie Comic Sans. Diese peinlich-flippige
Microsoft-Schrift, die an Schreibschrift in Comic-Sprechblasen
erinnert, ist seit gut einem Jahrzehnt allgegenwärtig. Sie gehört zu
den Windows-Standardschriften, taucht dank der totalen Verfügbarkeit
vor allem an gänzlich ungeeigneten Orten auf – auf Speisekarten,
Plakaten und in langen Fließtexten (siehe Fotostrecke unten).

Nun könnte die Comic Sans sogar geschmackvoll gestaltete Web-Seiten
verhunzen – Google testet die verhasste Schriftart in seinen
AdSense-Einblendeanzeigen (Erklärung im Kasten unten). Seit Wochen
tauchen in Blogs immer wieder Screenshots von Google-Kontextanzeigen
auf, die in der quietschigen Comic Sans gestaltet sind.

Google-Sprecherin Lena Wagner bestätigt SPIEGEL ONLINE: "Wir haben
verschiedene Schriftarten in einem kleinen prozentualen Anteil von
AdSense-Anzeigen innerhalb Europas getestet."

Eins steht fest: Diese Anzeigen fallen auf – und zwar unangenehm.
Die Reaktion des bloggenden Schweizer Informatikers Tom Brühwiler steht
da wohl stellvertretend. Brühwiler kommentiert
in seinem Blog eine Google-Kontextanzeige in Comic Sans auf der
Web-Seite des "Tagesanzeigers" so: "Erste Reaktion: Was soll das denn?
Sind die von allen guten Geistern verlassen, eine solche Schrift für
Werbeeinblendungen zu verwenden?"

Aber, so muss Brühwiler einräumen: "Für die entsprechende
Aufmerksamkeit hat die nicht überall beliebte Schrift Comic Sans sofort
gesorgt und meine Werbeblindheit für einen Moment ausgeschaltet."

Typografische Schockeffekte

Ist das Googles Kalkül?
Mehr Aufmerksamkeit für Werbung durch Schauderschriften?
Firmensprecherin Wagner kommentiert das nicht: "Der Test ist nun
abgeschlossen und wir werden die Ergebnisse nun auswerten."

Dass Comic Sans bei vielen Gestaltern verhasst ist, steht außer Frage. Es gibt seit Jahren eine recht populäre "
Ban Comic Sans"-
Seite im Netz, samt Manifest, Propagandamaterial und natürlich
Merchandise-Artikeln. Über kaum eine Schriftart wird im Web so
leidenschaftlich gestritten wie über die Comic Sans. Beispiele:

  • "Es ist wirklich eine Angst und
    Schrecken verbreitende Schrift. Vor einigen Monaten hatten sie bei Aldi
    mal Schokoladen-Katzenzungen, die Verpackung mit Comic Sans druff.
    *kotz*" ( Leserkommentar im deutschen Fontblog)
  • "Heute wirkt diese Schrift wie eine
    E-Mail von einer @aol.com-Adresse. Es fehlt die Glaubwürdigkeit, wer
    E-Mails in dieser Schrift sendet, wirkt lächerlich und entrückt.
    Typische Nutzer: Chefs, die glauben, Comic Sans mache ihre
    E-Mail-Signatur witziger (…). Kinder, denen die Kindlichkeit gefällt
    und die deshalb ihre Chat-Nnachrichten, E-Mails und Hausaufgaben in
    Comic Sans setzten." ( US-Bloggerin Lauren McMahon)
  • "Ich selbst habe Comic Sans verwendet,
    als ich mit 10 am Computer meines Onkels saß und in Paint (Win 3.11)
    erste Plakate gestaltete. Andere Schriften hielt ich für unpassend." ( Leserkommentar im deutschen Fontblog)

Comic-Sans-Entwickler: "Ein großes Missverständnis"

Vicent Connare, der Entwickler der Schrift,
rechtfertigt sich auf seiner Website:
Damals, als er bei Microsoft als Schriftenmacher arbeitete, habe er die
Comic Sans für einen ganz speziellen Einsatz entwickelt – als Schriftart für die Sprechblasen der Figuren in Microsofts Riesen-Flop Bob (mehr…),
der intuitiv zu bedienenden (das war zumindest der Plan)
Benutzeroberfläche für Computer-Unerfahrene (siehe Fotostrecke unten).

Bob versuchte, die Datei- und Programmstruktur des Rechners in
Alltagsmetaphern wie Wohnzimmer, Schreibtisch und so weiter zu
übersetzen. In diesen Räumen sollten witzige Wesen (Hund Rover, Ratte
Scuzz, Glühwürmchen Blythe usw.) den Nutzern in Dialogen die Bedienung
des Computers näher bringen – und für diese Dialogboxen entwarf
Schriftentwickler Connare die Comic Sans.

Microsofts Comic-Hund sollte in Comic Sans sprechen

Connare erklärt SPIEGEL ONLINE, warum er ungern immer wieder als
Sündenbock für den Missbrauch der Comic Sans herhalten muss: "Das ist
nicht in Ordnung. Ich habe damals das Richtige getan, als ich sagte,
dass es schlecht ist, die Texte in den Sprechblasen der Cartoonfigur
Rover in Times New Roman zu setzen. Ich habe sie freundlicher und
Cartoon-ähnlicher aussehen lassen."

Das Problem: Die Schrift kam zu spät, der Schnitt ließ sie weiter
laufen als die von den Programmierern vorgesehene Times New Roman,
deshalb konnte die Comic Sans nicht mehr genutzt werden – man hätte die
Größen aller Sprechblasen anpassen müssen.

"Es ist doch nicht die Schuld der Schriftart!"

Also packte Microsoft die Schrift in das Zusatzpaket "Windows 95
Plus Pack", später wurde Comic Sans als Standardschriftart mit dem
Betriebssystem ausgeliefert, um zum Beispiel im "Microsoft Movie Maker"
verfügbar zu sein.

Den Spott und die Häme weist Connare zurück: "Es ist doch nicht die
Schuld der Schriftart, dass sie falsch genutzt wird. Geht es bei
Gestaltung nicht darum – für jede Aufgabe die angemessene Lösung zu
finden?"

Zu diesen angemessenen Lösungen zählen Google-Anzeigen in Comic
Sans für Connare nicht: "Das bringt bestimmt Aufmerksamkeit, aber ich
würde das nicht angemessene Gestaltung nennen." Ebenso wenig wie einen
in Comic Sans gesetzten Lebenslauf. Connare erzählt, auf einer
Konferenz habe ihm eine Schuhdesignerin erzählt, sie habe ihren ersten
Job mit einem Lebenslauf in Comic Sans bekommen. Connare: "Ich konnte
ihr nicht sagen, dass ich ihren Boss dafür gefeuert hätte."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert