Sind Blinde etwa Software-Agenten? (Financial Times Deutschland, 9.7.2003)
Sind Blinde etwa Software-Agenten?
Schutzmechanismen bei Internetangeboten schließen kriminelle Werber aus – und Sehbehinderte.
Financial Times Deutschland, 9.7.2003
Es gibt blinde Menschen, die sich von speziellen Programmen Webseiten vorlesen lassen. Und es gibt habgierige Menschen, die mittels Software Hunderte von E-Mail-Konten automatisch einrichten, um unerwünschte Werbepost unter falschem Namen zu verschicken.
Die zwei Nutzergruppen unterscheiden sich eigentlich deutlich – nur erkennen das Technologien nicht, die den Zugang zu Webmailangeboten oder Datenbanken kontrollieren. Nun regt sich Widerstand: In den USA attackieren Behindertenverbände derzeit eine populäre Methode der Missbrauchsabwehr als diskriminierend. Die umstrittene Methode finden Anwender auch auf Seiten deutscher Anbieter. Wer bei Yahoo.de ein neues E-Mail-Konto anlegen will oder das Computermagazin "ct" unter ctcheck.de bewerten möchte, muss dort in einem Bild eine zufällig erzeugte Abfolge von Buchstaben erkennen und richtig abtippen. Für sehende Menschen kein Problem, für Texterkennungsprogramme schon. Sie können bestenfalls Textinformationen aus kontraststarken Grafikdateien mit gängigen Schriftarten auslesen.
Doch nicht einmal das können Programme, mit denen Blinde im Internet navigieren. Diese so genannten Screen-Reader lesen die auf Internetseiten verfügbaren Textinformationen vor. Mehr nicht. Beim Versuch, sich für einen E-Mail-Zugang bei Yahoo.de anzumelden, bekommt ein Nichtsehender dann zu hören: "Sollten Sie kein Bild sehen, dann überprüfen Sie bitte, ob Ihr Browser für Bildanzeige eingestellt ist."
Davor sollte eigentlich die Rechtsverordnung für barrierefreie Informationstechnik (BITV) sein. Doch die am 24. Juli 2002 in Kraft getretene Verordnung verpflichtet nur Bundesbehörden, bis 2005 sämtliche alten Netzangebote nach einem Kriterienkatalog barrierefrei zu gestalten. Ob private Internetdienstleister sich dem anschließen, ist bislang offen.
Erste Anzeichen dafür gibt es in den Vereinigten Staaten. Microsoft bietet seinen E-Mail-Kunden bei Hotmail als Alternative zur grafischen Identifizierung auch den Weg über Klangdateien an. Apple wirbt für sein Betriebssystem Mac OS X unter anderem mit den vielen Optionen für eine barrierefreie Nutzung: Bildschirminhalte kann es stufenlos vergrößern, zudem ist es leicht möglich, die Maus als Navigationsgerät vollständig durch Tastaturkommandos zu ersetzen.
Was nicht barrierefreies Design konkret bedeutet, kann jeder Anwender selbst ausprobieren. Die Hersteller der viel genutzten Screenreader IBM Home Page Reader (www.ibm.com/able) und Hal Screen Reader (www.dolphin-de.de/demo) bieten kostenlose Testversionen an. Wer den Monitor ausschaltet und Webangebote allein mit dieser Software zu lesen versucht, wird die größten Ärgernisse schnell verinnerlichen – etwa Produkte in Onlineshops, die als "nicht lieferbar" allein mit roter Grafik markiert sind. Ähnlich aufschlussreich ist ein Test mit dem Textbrowser Lynx (lynx.isc.org) .
Eine abstrakte Version der so zu sammelnden Erkenntnisse hat bereits 1999 das World Wide Web Consortium (W3C) veröffentlicht. Kern sind die Web Content Accessibility Guidelines. An diese 14 Grundsätze lehnt sich die deutsche Verordnung BITV an. Eine sehr gute Übersicht über die Kriterien der beiden bietet der Fachautor Jan Eric Hellbusch (barrierefreies-webdesign.de/wcag1/checkpunkte.php) .
Die zeigt, dass für ein barrierefreies Angebot im Netz viel gemeinsame Planung von Redakteuren, Gestaltern und Unternehmensvertretern – also letztlich viel Geld – nötig ist. Technisch stehen inzwischen etliche Werkzeuge zur Verfügung (w3.org/WAI/ER/existingtools.html) . Bei der umstrittenen Abwehr von Spammersoftware helfen sie noch nicht weiter. Bis Ende des Jahres will das W3C in einer neuen Version seiner Richtlinien auch hier behindertenfreundliche Alternativen vorschlagen. Dass barrierefreies Webdesign kein teurer Luxus ist, zeigt sich an einer Gruppe von potenziell Blinden, an denen zumindest kein kommerzieller Anbieter im Netz vorbeikommt: Suchmaschinen wie Google. Die können mit Bilddateien auch nicht viel anfangen.