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Social Networks: Der Fall Kerviel und die ungezügelten Exhibitionisten (Spiegel Online, 26.1.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
7 minuten gelesen

Social Networks

Der Fall Kerviel und die ungezügelten Exhibitionisten

Der Fall Jérôme Kerviel zeigt, wie gläsern der Bürger heute ist, wenn er sich auf das Web 2.0 einlässt: Die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils – früher mühselige Detektivarbeit – erledigt der Social Networker quasi selbst. Für Fahnder dürfte die Recherche künftig noch einfacher werden.

Spiegel Online, 26.1.2008 (mit Frank Patalong und Matthias Kremp)

Es gehört heute zu den ganz normalen Reflexen eines Journalisten, sofort im Web nachzusehen, wenn ein bis dahin unbekannter Name durch einen Skandal zu Prominenz kommt: Die Chance steigt jeden Monat, dass man binnen weniger Minuten selbst intime Details über den einstigen Niemand herausfindet. Und selbst wenn der Betreffende, wie nun im Fall des Milliarden-Versenkers Jérôme Kerviel, selbst gar keine großen Web-Aktivitäten entfaltet hat, ist Erkenntnisgewinn zu erwarten: Eine Heerschar von Internet-Nutzern stürzt sich mit wachsender Begeisterung auf die Aufgabe, Medien und Polizei bei ihren Recherchen zu unterstützen. Kein Zweifel: Insbesonders in der Bevölkerungsruppe bis 35 Jahre gibt es eine ausgeprägte Neigung, im Web permanent die Hose herunter zu lassen. Social Networks, konstatiert darum der Informatiker Hendrick Speck, Professor an der Fachhochschule Kaiserslautern, verfügten heute schon über "mehr Informationen, als die Stasi je hatte".


Der Mann meint das ernst. Mit einer Studentengruppe durchpflügte er
Software-gestützt verschiedene Social Networks nach 120
Persönlichkeitsmerkmalen. Kein großes Problem, denn die Seiten haben
einen formalisierten Aufbau, auf den sich sogenannte Crawler ansetzen
lassen. Die sammeln – genau wie Suchmaschinen – die Daten einfach von
den Seiten und ordnen sie sinnvoll ein.

Was bisher Informatikern und speziell dafür geschriebenen Programmen
vorbehalten war, könnte bald schon für jedermann möglich werden: Schon
jetzt gibt es Meta-Suchseiten, die verschiedene Social Networks
durchsuchen (siehe Kasten). In Zukunft erschließen die Networks solche
übergreifenden Möglichkeiten selbst. So kündigte Google Anfang November
die OpenSocial-Initiative an, die den Aufbau von Social Networks
standardisieren will.

Das gleiche Ziel verfolgt auch das Projekt DataPortability.org, das
Anfang Januar mit Facebook und Google mächtigen Zuwachs erhielt. "Eine
Maske für alle" – so dürften Social Networks zu noch reichhaltigeren
Datenminen werden.

Denn dann soll es möglich sein, sein persönliches Datenpaket nicht
händisch und immer wieder neu auf verschiedenen Social Networks
eingeben zu müssen, sondern die Daten parallel in verschiedene Networks
einfließen zu lassen. Auch die Meta-Suche dürfte das ganz erheblich
erleichtern.

Daten müssen nicht wahr sein

Die Recherche-Möglichkeiten, die sich aus dem Exhibitionismus der
Networker ergeben, sind allerdings so groß wie trügerisch. Die Frage
etwa, wie beispielsweise ein gesuchter Krimineller oder ein zum
Amokläufer gewordener Schüler mit wem verbandelt ist, liefert in der
sozialen Welt der sozialen Networks nur sehr unscharfe Antworten.

Was etwa bedeutet es, wenn Täter A Person B als "Freund" führt, auch
regelmäßig mit ihr kommuniziert, weil man eben Interessen teilt? So gut
wie nichts: Der eine mag 12.000 Kilometer vom anderen entfernt leben
oder ein virtuelles Profil haben – und zudem ist er mitunter nur einer
von 20.000 Freunden.

Dabei zeigt jedoch gerade das Beispiel der jugendlichen Amokläufer,
wie tief die freiwillig im Netz hinterlegten Informationen mitunter
gehen können. Was über Kimveer Gill, den Amokläufer von Montreal, den
Täter von Emsdetten oder von der Virginia Tech bekannt ist, stammt zum
größten Teil aus dem Web. Auf ihren Web- und Profilseiten erlaubten die
späteren Mörder tiefe Einblicke in ihre gestörten Seelen.

Kriminalbeamte und Politiker erhoffen sich darum auch Erkenntnisse
aus dem Web, die zur Prävention eingesetzt werden könnten. Wenn man im
Nachhinein so herrlich nachvollziehen kann, wie gestört ein Täter war,
ließe sich daraus nicht auch eine Strategie ableiten, sogenannte
Gefährder zu erkennen, bevor sie tätig werden?

Ein gefährlicher Trugschluss, wie die
Beinahe-dann-aber-doch-nicht-Amokläufer von Köln kürzlich feststellen
mussten. Und niemand weiß besser, wie trügerisch diese Hoffnung ist,
als Wayne Chiang, 2006 Student an der Virginia Tech. Ihn erkoren
Web-Surfer zum Täter, weil er sich auf seiner Webseite als Waffennarr
asiatischer Herkunft outete. Weil sein Profil dem des Mörders glich,
deckte man ihn mit Morddrohungen ein.

Doch man muss gar nicht in die Extreme gehen, um die Gefährlichkeit der
Daten-Nabelschau bei Facebook und Co zu dokumentieren. Meistens geht es
um ganz profane Dinge, die Menschen dort leichtsinnig veröffentlichen.
Und meistens bringt es ihnen keine Mordanklage ein, sondern unter
Umständen eine Kündigung. Der ungezügelte Exhibitionismus scheint
jedenfalls prächtig geeignet, sich selbst zu gefährden. Am Freitag
wurde bekannt, dass derzeit über BitTorrent eine Datei mit 17 Gigabyte
als "privat" gekennzeichnete Fotos kursieren, die ein Unbekannter bei
MySpace abgefischt hat – potentiell Peinliches nicht ausgeschlossen.

Bewusst ist all das selbst Web-Profis nur noch selten – wie unsere
folgenden Beispiele zeigen. Im letzten Teil haben wir ein paar Tipps
zusammengetragen, wie man mit seinen Daten in Social Networks umgehen
sollte.

Banker fehlt im Büro – feiert im Feenkostüm auf Facebook

Am 31. Oktober meldete sich Kevin Colvin, Praktikant in der
US-Zentrale der Anglo Irish Bank bei seinem Boss ab: Etwas sei zu Hause
"passiert", er müsse dringend nach New York, um das zu klären. Die
Geschichte kursiert mit dieser Antwort-Mail des Chefs im Netz: "Vielen
Dank für die Mitteilung – hoffe, es geht allen gut (schöner
Zauberstab)."

Denn auf seinem Facebook-Profil zeigte der angeblich familiär
verhinderte Colvin sich am Abend des 31. Oktobers mit Zauberstab,
geschminkt und schulterfrei im grünen Feenkostüm auf einer Halloween-Party in New York.

"Trinke ein Bier" – Plazes-Gründer brüskiert Gastgeber

Felix Petersens Start-up hat eine bestechende Geschäftsidee: Per
Mobiltelefon oder Webinterface erzählt man aller Welt oder ausgewählten
Freunden, was man gerade tut. Die Software bestimmt wenn möglich
automatisch über Providerdaten, wo man sich dabei gerade befindet. Wie
gut das manchmal funktioniert, hat Firmengründer Petersen selbst
unfreiwillig demonstriert: Im vorigen Juni war er als Redner zu einer
Web-Konferenz in Amsterdam eingeladen. Er sollte dort am Freitag sprechen, sagte am Donnerstag ab, weil seine Tochter krank war.

Und dann konnte jedermann auf Petersens Plazes-Profil lesen, er sei
in Kopenhagen, auf einer anderen Konferenz. Die Amsterdamer Gastgeber
Petersens lasen: "Reboot, Kopenhagen: Trinke ein Glas Wein." Und
"Trinke ein Bier." Und dann noch: "Dinner". Die Geschichte ging durch
die Blogs und Online-Medien.

Tenor: Petersen wurde von der eigenen Software verpetzt. Später
erklärte der Unternehmer dann, wie es wirklich war: Er habe
ursprünglich am Freitag von Kopenhagen nach Amsterdam reisen wollen,
sagte aber ab, als er hörte, dass seine Tochter krank sei und er
womöglich zur Familie müsse. Der Tochter ging es besser, Petersen blieb
in Kopenhagen – schließlich hatte er den Auftritt in Amsterdam da ja
schon abgesagt.

Im Juli war Petersen dann in New York – wo er sich ein iPhone kaufte
und vor Ort knackte. So stand es in seinem Plazes-Profil – hoffentlich
hat er bei der Rückkehr nach Deutschland Einfuhrumsatzsteuer gezahlt.
Sonst wäre das freimütige Bekenntnis für den deutschen Zoll höchst
interessant.

eBay-Milliardär verrät seine Ferienorte

Pierre Omidyar ist ein reicher Mann: Das US-Wirtschaftsblatt
"Forbes" schätzte das Vermögen des 40-jährigen eBay-Gründers und
größten Einzelaktionärs (etwa 14 Prozent) im vorigen Jahr auf 8,8
Milliarden Dollar – Platz 76 weltweit.

Omidyar ist weniger bekannt, aber viel freizügiger als andere Milliardäre:
Er fotografiert gerne, stellt seine Bilder beim Fotoportal Flickr ein
und verortet sie dort sogar zum Teil auf Landkarten. So kann man sehen,
dass er regelmäßig (im Juli 2005 und 2007 zumindest) auf der
bretonischen Insel Belle-Île Urlaub macht, in Paris war er mit seiner
Frau Pam bei Kong essen – auch da könnte man ihn womöglich häufiger
treffen, schließlich wurde Omidyar in Frankreich geboren.

Wenn er wieder in Urlaub fährt, könnte man das womöglich auf seinem
Mikroblog beim Anbieter Twitter nachlesen – da verrät Omidyar
schließlich auch, dass er ungern zum Friseur geht (21. April 2007:
"Habe nun weniger Haare, meine Mutter ist glücklicher. Sie wollte mir
einen Anzug kaufen, aber ich musste ein Grenze ziehen.")

Sicherheitsregeln für Facebook und Co

Das Wort Privatsphäre hat in Sozialen Netzwerken kaum Bedeutung.
Fast alles, was man dort von sich preisgibt, kann von anderen
Mitgliedern eingesehen werden. Und damit nicht genug, grasen
Suchmaschinen die Netzwerke regelmäßig ab.

Die wichtigste Regel lautet deshalb: Halten Sie sich zurück!
Telefonnummern und Adressen haben in Sozialen Netzwerken nichts zu
suchen, zumindest nicht auf Profilseiten. Dasselbe gilt für E-
Mail-Adressen. Solche Angaben sind quasi eine Einladung an Spammer und
Adresssammler, sich zu bedienen.

Beispiel MySpace: So macht man dicht

Die wichtigen Einstellungen findet man links auf seiner
Mein-MySpace-Seite unter – wie praktisch – "Einstellungen". Hier sollte
man unter "Jetzt online" das Häkchen deaktivieren, um zu verhindern,
von Fremden angesprochen zu werden. Jugendliche sollten zudem das
Häkchen hinter "Benutzer nach Alter sperren" anklicken.

Unter "Spam" kann man sich notdürftig vor unerwünschten Nachrichten
schützen, indem man "Auch Personen, die nicht mein Freund sind, dürfen
mir Nachrichten schicken" anklickt. Aktiviert man zudem das Kästchen
vor "Personen, die nicht mein Freund sind, müssen CAPTCHA Code
eingeben, um mir Nachrichten zu schicken" haben Spam-Mails eigentlich
keine Chance mehr.

An den übrigen Spam-Einstellungen sollte man nichts ändern. Einzig
das Häkchen vor "Jeder darf mich einladen" sollte man gegebenenfalls
deaktivieren.

Im Profil empfiehlt es sich, unter "Basis-Infos" zumindest die bei
der Anmeldung angegebene Postleitzahl zu löschen. Straße und Hausnummer
haben dort ebenfalls nichts zu suchen. In der Rubrik "Hintergrund &
Lifestyle" sollte man unter "Sexuelle Orientierung" lieber "Keine
Antwort" markieren, um eventuellen sexuellen Nachstellungen vorzubeugen.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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