Spiel mir das Lied vom künstlichen Leben (Süddeutsche Zeitung, 4.01.2001)
Spiel mir das Lied vom künstlichen Leben
In den neuesten Computerspielen verschwimmt die Grenze zwischen dem Autor und dem Publikum
Süddeutsche Zeitung, 4.01.2001
Lara Croft ist tot. Das hübsche virtuelle Mädchen hat eben erst den Sprung aus dem Computerspiel in den Film geschafft – das wird aber auch ihr vorerst letzter gewesen sein. Wenn der vierte Teil der Computerspielreihe „Tomb Raider“ zu Ende geht, begraben tonnenschwere Steinbrocken das Mädchen Lara Croft. Und erstaunlicherweise steht sie, im gerade erschienenen fünften Teil, nicht wieder von den Toten auf. Das Spiel funktioniert eher wie ein Requiem. Die Verbliebenen gedenken Lara Crofts Heldentaten – und es ist, als ob auch der Spieler dabei Abschied nähme von einer abgeschlossenen Epoche des Computerspiels.
Zwar gab es auch in diesem Jahr noch Zeitschriften und Magazine, welche Lara Croft für das allerneueste Ding hielten und sie deshalb auf den Titel setzten. Aber die Computerspiele haben sich längst fortentwickelt. „Tomb Raider“ funktionierte nach einem sehr schlichten Prinzip: Der Spieler lässt Lara Croft springen und hüpfen durch eine Welt, mit der er selber nicht viel anfangen kann. Er schießt, er drückt auf Knöpfe, das sind dann Aktion und Interaktion. Der Charakter der Heldin bleibt stereotyp: Sie rennt durchs Spiel, um des Rennens willen. Was sich änderte, waren ihre Kostüme. Die wurden immer knapper.
Als die Computer in den frühen 90er Jahren damit anfingen, bewegte Bilder und bessere Töne zu generieren, da reichte das auch. Lange Zeit war Innovation bei Computerspielen allein technisch definiert. Die Erzählstrukturen wurden eher simpler; sie fielen weit hinter die so genannten „Adventures“ der 80er Jahre zurück, die allein als Text funktioniertem.
Damals waren die technischen Mittel beschränkt: nicht mehr als 16 Farben und schlichte Klänge aus dem Computer-Piepser. Umso komplexer mussten die Geschichten sein, mit welchen das Spiel den Spieler konfrontierte: Der Schriftsteller Ray Bradbury beispielsweise wirkte 1984 selber daran mit, eine Computerspielfassung seines Romans „Fahrenheit 451“ zu erarbeiten.
Das Computerspiel „Myst“ dagegen, das 1993 herauskam, hatte wunderschöne atmosphärische Grafiken und eine vielschichtige Musik- und Geräuschkulisse. Der Spieler konnte allerdings wenig anderes tun, als Rätsel zu lösen, wie man sie aus Denksportheften kennt. Dann begann die Konjunktur der Actionspiele, bei denen der bewaffnete Spielcharakter Labyrinthe durchrennt und Monster erschießt. Der größte Spaß ist hier meist die Schnelligkeit und Flüssigkeit der nach Fotorealismus strebenden Grafik. „Tomb Raider“ gehörte zu diesem Genre.
In diesem Jahr aber kam keines der Aufsehen erregenden Spiele aus diesem Genre. Vielmehr gab es mit drei erfolgreichen Titeln eine Wiederauferstehung des Rollenspiels. Das Prinzip dieser Spiele ähnelt ein wenig dem Actionspiel: Ein Charakter läuft durch eine – meist von Tolkiens „Herrn der Ringe“ inspirierte – Fantasy-Welt; ab und zu muss er auch kämpfen. Allerdings bieten die neueren Spiele jetzt Geschichten von epischer Breite, durchs ganze Spiel und über die gesamte Spielzeit hinweg. Neu ist, dass virtuelle Charaktere plötzlich das Lernen gelernt haben. Wenn der Spieler gut ist, perfektioniert der Held bestimmte Fertigkeiten, das Zaubern beispielsweise. Die Figuren auf dem Bildschirm gewinnen, was neu ist, Erfahrung und verfügen über Erinnerungen, somit über mehr Aktionsmöglichkeiten. Der Reiz von Rollenspielen ist nicht so sehr die Simulation der äußeren als die der inneren Welt der Spielcharaktere.
Das im November erschienene Rollenspiel „Baldur’s Gate 2“ ist ein schönes Beispiel: Der Spielcharakter erholt sich mit seinen Freunden von den Abenteuern des ersten Teils, als alle von einem düsteren Bösewicht angegriffen werden – und irgendwann sitzen beide Parteien im Gefängnis; allein der Held des Spiels kann sich retten. Er muss nun herausfinden, wer der Angreifer ist und wie er seine Freunde aus der Haft bekommt. Der Spieler schart hierzu einige Mitstreiter um sich, durch deren Beziehungen und Spannungen untereinander das Spiel an Dichte gewinnt. Der Held ist keinesfalls ein strahlender. Er hadert mit seinem Schicksal; und der Spieler kann ihn in jede Richtung entwickeln. Eines der weniger nuancierten Beispiele: Entweder befreit er Sklaven – oder er wird selbst zum Sklavenhändler.
Durch solche und andere, kleinere Entscheidungen entwickelt sich die Geschichte fort. 200 Stunden verbringt ein geübter Spieler mit „Baldur’s Gate 2“. Die nächsten 200 können dann ganz anders aussehen. Dass die Ereignisse in einem Tagebuch automatisch niedergeschrieben werden, macht augenfällig, dass hier die Geschichte erst durch die Reaktion des Spielers auf das Erzählte entsteht.
Die Frage nach dem Autor bei dieser Form von Erzählung hat die Wissenschaftlerin Janet Murray, die am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das „Program in Advanced Interactive Narrative Technology“ leitet, sehr schön beantwortet: „Die Aufgabe des Schreibens ist hier ähnlich dem Komponieren eines Musikstücks für zahlreiche Instrumente. “ Jedes Element muss für sich perfekt klingen und ebenso gut mit den anderen zusammenklingen. Der Unterschied zur Musik: Bei einem Computerspiel wie „Baldur’s Gate 2“ bestimmt nicht die Notation, sondern der Spieler, wann welche Elemente zusammenwirken.
Der Künstler als Schöpfer hat in den vergangenen hundert Jahren viel Macht an sein Publikum abgeben müssen. Den Endpunkt dieser Entwicklung markiert das zweite Spielgenre dieses Jahres: die Simulation. In „Mobility“, einem Stadtplanungsspiel, an dem unter anderem das Bundesverkehrsministerium mitarbeitete, reicht die Definitionsmacht des Spielers beim Regieren einer Stadt von der Wahl der Ampelschaltungen über das Festsetzen der Steuern, Parkgebühren und Fahrpreise bis hin zum Ausweisen von Gewerbegebieten und Fördern umweltbezogener Forschung. So schafft sich der Spieler die Erzählwelt, in der er sich aufhält, selbst.
Schon 1941 beschrieb Jorge Luis Borges in „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ die Zeit als ein Netz, das jede Handlungsmöglichkeit einschließt. Damals war das Bewusstsein alternativer Realitäten als Reaktion auf die Physik nach Einstein ein revolutionärer Gedanke. Heute werden diese Alternativen in jedem Computerspiel ausgelebt. Einfach gesagt: Gibt es in „Mobility“ einen Stau auf der Hauptstraße, geht man zurück zu der Entscheidung über Ausbau und Ampelschaltung und entwirft eine andere Möglichkeit.
Bislang ist das Jonglieren mit Identitäten und alternativen Realitäten auf jene Spiele beschränkt, die man nur alleine spielen kann. Aber Online-Rollenspiele wie „Everquest“ und „Ultima online“ haben schon jetzt weltweit 400 000 Nutzer. Der Reiz dabei ist die Interaktion mit anderen Menschen, die ihre ganz eigenen Rollen in der fiktiven Welt spielen. Für das Jahr 2001 sind sechs weitere solcher Spiele angekündigt.
Nach der in diesem Jahr kräftig vorangeschrittenen Entwicklung zum Erzählmedium wird der nächste Schritt in der Entwicklung von Computerspielen wohl dahin gehen, dass die Spieler ihr Leben selbst zum Material der großen Erzählung machen. Das Simulationsspiel „Black and White“, das für dieses Jahr angekündigt ist, wird die Spielfiguren nach den Email-Adressen der Nutzer benennen. Erreicht den Spieler elektronische Post etwa von seiner Liebsten während der Simulation, kommt die nach ihr benannte Figur auf dem Bildschirm daher und fängt an vorzulesen.
Da klingt Janet Murrays Prophezeiung vom Verschwinden der Grenzen zwischen „Computerspielen und Geschichten, gesendeten und archivierten Medien, erzählenden und dramatischen Formen, Publikum und Autor“ fast schon etwas antiquiert.