Spieler zu Prozessoren (Kunstforum, Juni/Juli 2003)
Spieler zu Prozessoren
Ein Kampf prägt die Entwicklung der Kriegsspiele und gespielten Kriege auf dem Computer: Spieler müssen immer größere Informationsmengen in begrenzter Zeit bewältigen.
Kunstforum, Juni/Juli 2003
Godards Satz von den schönen Frauen, den schönen Dingen und dem Kino hat für Computerspiele noch niemand ausgesprochen oder aufgeschrieben. Doch es gibt eine Näherungslösung des für Konfliktsimulationen wie „Gettysburg“ bekannten Designers Sid Meier: „Ein gutes Spiel ist eine Reihe interessanter Entscheidungen. Sie müssen häufig und bedeutungsvoll sein.“ Seine Beschreibung ist vielleicht unpoetisch, doch sie erfasst das wesentliche, verbindende Element aller Spielformen, in denen Konflikte gewaltsam verhandelt werden: Nicht die Gewalt steht im Mittelpunkt, sondern die Action gewordene Handlungslogik dahinter. Mit ihr setzt der Computer den Spieler unter Entscheidungsdruck. Es gibt in Spielen keine Gewalt ohne Geschwindigkeit.
Diese besondere Form des Spiels taucht in den Fragen an das Medium nur selten auf, gerade wenn sie auf Gewalt und Krieg abzielen. Doch spannender als die Frage nach der Darstellung von Krieg im Spiel ist es zu erforschen, was ihr Spieler leisten muss, um zu gewinnen.
Es gibt genug Zweifel, warum man das überhaupt tun sollte. „Eine Epoche kann durch die ihr eigenen Spiele charakterisiert werden“, schrieb Roger Callois. Denn Spiele sind natürlich Kultur, wenn man Kultur als alles versteht, was der Mensch der Welt über den Naturzustand hinaus hinzufügt. Und Spiele sind natürlich auch Kunstwerke, wenn man als Kunst den ästhetischen Ausdruck einer bestimmten Haltung zur und Aneignung der Wirklichkeit versteht. Die transportieren Spiele. Nicht, indem sie von den Dingen sprechen, sondern indem sie den Spieler ein bestimmtes Denken erproben lassen. Ja, ihn im Wechselspiel von Eingabe und Ausgabe von Information langsam in bestimmte Denkmuster hineinziehen und entlang dieser Struktur entscheiden lassen.
Spielregeln
Kriegsspiele müssen wie jedes andere Spiel Gewinn und Verlust klar definieren, schon während des Spielverlaufs. Beim Tischtennis sollte der Ball das gegenerische Spielfeld einmal berühren, damit man nicht einen Punkt, dann vielleicht gar den Satz und letzten Endes das Spiel verliert. Bei „Die Sims“ sollten die Sims Spaß haben, was anfangs zu erreichen ist, indem ihnen etwa Bälle zum Spielen gibt.
Zusammen genommen ziehen diese kleinen Regeln systematisierte, wertende, spielweltanschauliche Grenzen – sie schaffen eine Ideologie. Sehr anschaulich ist hier das Beispiel „Die Sims“, wo die Anzahl der Freunde mit den Einkommen und Vermögen steigt. Die Ideologie des Spiels schränkt das potenzielle Verhalten der Spieler ein. Das geschieht bestenfalls unbemerkt, weil der Spieler die Regeln verinnerlicht und scheinbar freiwillig befolgt. Denn er will gewinnen. Die Regeln setzen die Randmarken des Weges, den der Spieler durch den Ereignisraum einschlägt. Ein gutes Spiel gestaltet diesen Weg an möglichst vielen Stellen so breit wie möglich – es oszilliert zwischen Freiheit und Unfreiheit.
Die Richtung dieser Bewegung ist durch das Ziel des Spiels bestimmt. Jedes Spiel definiert, was als endgültiger Sieg gilt: Beim Tischtennis 2, 3, 4 oder mehr Gewinnsätze, bei „Empire“ die Besetzung aller gegnerischen Städte und die Zerstörung aller Einheiten, bei „Doom“ die Vernichtung aller Gegner. Diese übergeordneten Ziele können narrativ formuliert werden: Die Prinzessin muss gerettet, das Böse besiegt, die Identität des Spielcharakters ergründet werden. Doch gerade bei Titeln wie „Empire“ fehlt diese narrative Unterfütterung als Motivation, bei „Doom“ beschränkt sie sich auf eine Bildschirmseite Text. Und auch mehr erzählende Spiele erzählen im strengen Sinn ausschließlich, wenn das Spiel pausiert.
Auch klassische Spiele haben Regeln. Doch Computerspiele unterscheiden sich hier durch die Form, in welcher die Regeln vorliegen. Bei klassischen Spielen sind die Regeln offen zugänglich formuliert. Sie müssen zuerst gelernt und verstanden werden, dann erst ist das Spielen möglich. Bei Computerspielen hingegen kommt zuerst das Spiel. In dessen Verlauf lernt man dann seine Regeln sukzessiv durch Erproben. Nur wenige Regeln sind verbalisiert, die wenigsten offen zugänglich. Die meisten Regeln eines Computerspiels sind Reaktionswahrscheinlichkeiten des Programms auf bestimmte Handlungen, die der Spieler durch die Spielerfahrung abschätzen lernt.
Dieser Lernprozess ist ein wesentliches Element originärer Computerspiele: Langsam begreift man ihre Grenzen, die ihnen inhärente Logik und die eigenen Freiheitsgrade als Spieler innerhalb dieser Ideologie. Das prozessuale Medium Computer ermöglicht dieses Trial-and-Error-Lernen.
Computerspiele, die ihre Spieler Krieg führen lassen, liegen in vielen, sehr unterschiedlichen Formen vor. Es gibt auf Strategie fokussierte Titel, die grausame Schlachten abstrakt als Zahlen und farbige Punkte inszenieren – die Feldherrenperspektive. Es gibt auf der anderen Seite visuell sehr konkrete Spiele, die aus der Egoperspektive zeigen, wie man andere Spielfiguren ermordet und selbst getötet wird. Doch alle Genres, die Krieg als Spielfeld nutzen, haben etwas gemeinsam: Sie verlangen von ihren Spielern eine eher kalkulatorische als narrative Entscheidungslogik. In erzählenden Genres wie Rollenspielen oder Adventuren folgt die Lösung von Aufgaben und die Rolle bestimmter Figuren meist aus der erzählten Rahmenhandlung des Spiels. In Strategiespielen hingegen muss der Spieler kalkulieren, in Action-Titeln seinen Reflexen vertrauen.
Spielplätze
Es existiert kein allgemein anerkannter Kanon der Spielgattungen. Doch ein Blick auf die Geschichte der einzelnen Genres zeigt gemeinsame Strukturmerkmale. Zum Beispiel bei den heute strikt getrennten Genres der Kriegsspiele, Konfliktsimulationen, Strategiespiele und Flugsimulatoren. In all diesen Titeln sind die Spielregeln in einem größeren Ausmaß Selbstzweck als in erzählenden Spielen wie Adventuren oder Actiontiteln. Die Regeln sollen nicht möglichst intensive Eindrücke eines außerhalb des Spiels liegenden Ortes – in Rollenspielen meist Fantasywelten – vermitteln, sondern ohne jeden Bezugspunkt außerhalb des geschlossenen Regelwerks als Spielwelt funktionieren. Simulationsspiele täuschen nichts vor, sie sind kein Mittel zum Erzählen von etwas anderem.
Die Ursprünge sind allerdings andere. Preußische Offiziere trainierten im 19. Jahrhundert mit dem Kriegsspiel. Sie versetzen militärische Einheiten bezeichnende Miniaturen auf Sandflächen, die später zu immer detaillierteren topografischen Karten wurden. Das taten sie gemäß den in einem Regelbuch kodifizierten Gesetzen. Ein Schiedsrichter überwachte die Einhaltung. Es war die Spielsoftware des analogen Zeitalters. Selbst heute sind unter den gut 600 von der US-Armee genutzten Kriegsspielen noch einige analoge.
Das Kriegsspiel begeisterte aber auch Hobbystrategen. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte H.G. Wells kommerzielle Versionen von Kriegsspielen, 1911 „Floor Game", 1913 dann „Little Wars". Ende der sechziger Jahre entwickelte Dave Arneson mit Gary Gygax aus den Regelwerken taktischer Kriegsspiele das erste Rollenspielsystem überhaupt, das noch heute international sehr erfolgreiche System „Dungeons & Dragons". Ihre Motivation: Tolkiens virtuelle Welt Mittelerde war im Spiel intensiver da interaktiver zu erfahren als in der Literatur.
Die Urform des Kriegsspiels, in welcher der Spieler sicht nicht mit individuellen, psychologisierten Spielfiguren beschäftigt, sondern abstrakte Einheiten befehligt, lebt heute auf dem Computer in Strategiespielen fort. Der Designer Chris Crawford machte 1978 mit seinem Spiel „Tanktics" den Rechner als Medium für die klassische Form des Kriegsspiels populär. Sogar die Topografie der klassischen Spielbretter mit ihren sechseckigen Felder übertrug er. Noch heute orientiert sich die visuelle Präsentation klassischer Kriegsspiele auf dem Computer – ein kleiner Nischenmarkt – eher an der Abstraktion der Miniaturen in Spiellandschaften als am grafischen Naturalismus von Titeln wie „Doom 3".
In „Tanktics“ mussten die Spieler Bewegungen dem Computer noch mit alphanumerischen Werten angeben. Erst Crawfords Titel „Eastern Front 1941” nutzte 1981 den Joystick als Eingabegerät und beschleunigte so den Spielverlauf. Die Grundidee dieser Titel ist aber gleich geblieben: Erfolg hat, wer die Stärken und Schwächen verschiedener Einheiten erfasst, vergleicht und seine Ressourcen entsprechend einsetzt. Fast jedes Strategiespiel lässt den Denkprozess seiner Spieler zu Bildern gerinnen: Mit jeder Entscheidung verändern die Spieler die Landschaft. Ihre Strategien lassen sich in manchen Titeln wie Civilization noch nach langer Zeit aus der entstandenen Topografie ablesen. In diesen Bildräumen fehlen einzelne Figuren als Darsteller. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Strategien, Wirkungsketten, Gesetze – das Denken an sich. Diese Darstellungsweisen nehmen Perspektiven ein, die Film oder Romane so niemals gegenüber historischem Geschehen einnehmen könnte: Einzelschicksale sind irrelevant gegenüber dem intellektuellen Experiment. Krieg ist die Konfiguration von Symbolen für Größe, Tätigkeiten und Zustände der eigenen und – soweit verfügbar – gegnerischen Truppen.
Actionspiele haben grundsätzlich weniger sukzessiv zu erfassende Regeln als Simulationen. Um sie zu erfassen und abzuarbeiten, hat der Spieler allerdings nur sehr wenig Zeit. Hier geht es nicht um Ressourcenmanagment, sondern um den richtigen Tastendruck, die richtige Joystickbewegung zur richtigen Zeit als Reaktion auf bestimmte Reize. Außerdem unterscheiden sich Actionspiele von der Simulation, indem ihre Designer großen Wert auf physische Sinneseindrücke legen. Deshalb ist im Bereich der Egoshooter die Grafikauflösung ein wesentliches Verkaufargument. Statt der Simulation steht die Stimulation im Vordergrund.
Es ist manchmal schwer, Simulationen von Actionspielen zu unterscheiden. Einer der ersten mechanischen Flugsimulatoren, der so genannte „Link Trainer“ des Ingenieurs Edward Link trainierte in den dreißiger Jahren ebenso kognitive Fähigkeiten wie Reflexe – in Vergnügungsparks ebenso wie bei der „Air Force“.
Eindeutig ein kriegerisches Actionspiel ist „Battlezone“, das 1983 wohl das Genre des Egoshooters begründete. Der Spieler lenkte mit zwei Joysticks einen Panzer durch einen dreidimensionalen Spielraum. Um zu überleben, musste er gegnerische Panzer und Flugzeuge beschießen und zerstören. Die US-Armee zeigte Interesse an einer Modifikation dieses Spielautomaten zum Trainingsgerät. Über Prototypen kam das Projekt aber nicht hinaus. Neben ökonomischen Gründen können auch inhaltliche ein Grund gewesen sein: Während das Actionspiel „Battlezone“ allein Reflexe abruft, müssen Soldaten auch lernen gegnerische Einheiten differenziert zu betrachten und vor allem von eigenen zu unterscheiden. Reine Actionspiele dienen deshalb auch heute eher der Unterhaltung als dem Training von Soldaten. Deshalb wurde der Actiontitel „Doom II“ 1997 erst nach Modifikationen fürs Training von US-Marineinfanteristen genutzt. Nicht allein die Reflexe standen dann im Vordergrund, sondern die schnelle aber funktionierende Kooperation in Vier-Mann-Teams.
Spielverlauf
Inhaltlich hat sich in den Genres nichts grundlegend verändert. Auch das Verhältnis von gespielter Zeit zur Spielzeit ist in Actiontitel meist 1 zu 1, in Simulationen vergeht hingegen die gespielte Zeit oft schneller. Doch sowohl in Actiontiteln als auch in Simulationen wächst seit Ende der achtziger Jahre die Menge der vom Spieler zu bewältigenden Informationen.
Die Spielräume von Actiontiteln wurden größer und ihre visuelle Darstellung detaillierter. Klassische Actiontitel aus der Zeit der Spielautomaten wie „Pac-Man" aber auch „Battlezone" boten meist nur einen Ort des Geschehens, dessen Konfiguration sich im Spielverlauf mit wachsender Schwierigkeitsstufe änderte. Sprich: In „Space Invaders" spielt jeder Abschnitt im Weltall. Das Raumschiff des Spielers am fliegt am unteren Bildrand, die Gegner nehmen immer mehr der übrigen Zweidrittel des Bildraums ein. Von Level zu Level verändert sich dabei vor allem die Geschwindigkeit und Anzahl der Gegner.
Schon das 1993 erschienenen Spiel „Doom", welches das Egoshooter-Genre populär machte, enthielt 27 topografisch und visuelle höchst unterschiedliche Spielorte. Jede dieser Spielstufen ist ebenso durch die ihre eigene Architektur und Topografie als eigener Orte definiert wie durch die Anzahl und Art der hier zu findenden Gegner.
Der Raum bestimmt die Dramaturgie des Spiels. Die bei solchen Titeln so wichtigen Leveldesigner zeichnet das Wissen aus, wie Räume Verhalten und Gefühle der Spieler beeinflussen. Anders als bei „Space Invaders“ oder „Pac-Man“ müssen in heutigen Actiontiteln die Spieler nicht nur rechtzeitig und richtig auf Reize reagieren, sondern auch währenddessen den Raum erfahren, verstehen und schließlich nutzen. Denn im Raum sind die Gesetze solcher Egoshooter codiert.
Im Gegensatz zur abstrakten grafischen Präsentation der Strategietitel nähren Actiontitel, insbesondere Egoshooter, das Fetisch des Fotorealismus würde das Entstehen wirklich spannende Darstellungsweisen verhindern. Es gäbe keinen Expressionismus, keinen Impressionismus – lediglich einen sehr platten Illusionismus, dessen Güte sich an Schattenwürfen, Reflexionen und dem Verhalten von Flüssigkeiten bemessen lässt. Erst das relativ junge Genre der taktischen Egoshooter beginnt, diese realistischen Bilder zunehmen mit Informationen zu belegen. Zum Beispiel grünlich blinkenden Wegmarken in „Rainbow Six: Rogue Spear Black Thorn". Hier wird die Spielwelt auch in der Darstellung zu Information, letztlich zum Interface ohne eigenen Wert jenseits des Bezugs zum Spieler.
Aber auch in Grafik anderer pseudorealistischer Actiontitel gibt es Momente, die eben diese Darstellungsweise unterlaufen. „Max Payne” zum Beispiel ist eigentlich ein klassischer Egoshooter. Die Bildräume sind dreidimensional, die Texturen sehr detailreich, die Schattenwürfe folgen den physikalischen Gesetzen unserer Welt. Doch diese Bilder werden durch andere infrage gestellt: Dreimal findet sich der Spieler in drogeninduzierten Visionen des Spielcharakters wieder. Die Gänge werden hier länger, während man sie durchläuft, die Perspektive ist verzerrt, der Fluchtpunkt entfernt sich durch Bewegung immer weiter. Diese Bilder sind nicht neu, doch ihre besondere Wirkung entfalten sie dadurch, dass es eben keine Bilder sind, sondern ein Bildraum, durch den sich der Spieler bewegt. Es gibt kein außerhalb, kein jenseits der Gesetze der Spielwelt und innerhalb dieses als Level abgeschlossenen Raumzeit-Kontinuums auch kein vorher und nachher. Dieser Bildraum hat seine eigene, in sich schlüssige – um nicht zu sagen abgeschlossene – Logik. Tritt man zum Beispiel von der roten Blutspur einen Schritt zur Seite in die Schwärze, stürzt man. Im Umfeld von Kerzen ist es auch in Max Paynes Vision heller. Gravitation und Ausbreitung des Lichts funktionieren. Der Geist des Spielcharakters als Bildraum, den der Spielcharakter durchlaufen kann, weckt Zweifel an den fotorealistischen Räumen der anderen Spieleinheiten: Entspringen nicht auch sie zum Teil der Wahrnehmung des psychisch labilen Helden? Oder den Regeln, nach denen ein sinnlich spektakuläres Spiel zu funktionieren hat? Immerhin kann der Spielcharakter die Zeit langsamer ablaufen lassen, um sich wie im Film „Matrix“ langsamer durch die Zeit zu bewegen als die Umwelt. Diese vom Spiel provozierte Bewegung durch Raum und Zeit als Selbstinszenierung offenbart dem Spieler die Konstruktionsregeln der Bilder: Die Genreregeln des jeux noir, nach denen die Spielfigur sich und der Spieler sein Spiel in Szene setzt.
Eine zusätzliche Anforderung an die Aufmerksamkeit der Spieler erhebt das Genre der so genannten taktischen Shooter. Zur Reaktion auf bestimmte Reize und dem Erforschen des Spielraums kommen als weitere Anforderung Entscheidungen über den Einsatz bestimmter Einheiten. Als ein sehr früher solcher Titel kann das ebenfalls 1993 erschienene Spiel „Syndicate" gelten. Darin leitet der Spieler eines der vielen die Spielwelt beherrschenden, paramilitärischen Syndikate. Die bekriegen sich untereinander und so muss der Spieler in jedem Spielabschnitt vier Cyborgs durch verschiedene gewaltsam zu lösende Konfliktszenarien bewegen. Dabei entscheidet allerdings nicht so sehr die Reaktionsgeschwindigkeit, sonder ein schnelles Zusammenspiel aus spezialisierten Einheiten, taktischer Planung und richtig gewählter Ausrüstung. Der Spieler ist ein in Echtzeit managender Befehlshaber.
Diese Mehrfachbelastung hat das in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre neben der Echtzeit-Strategie ebenfalls sehr stark wachsende Genre der taktischen Shooter gesteigert. Handlungshintergrund ist hier fast immer Einsatz von Antiterror-Kommandos. Besonders spannend – und zum Teil subversiv – sind Titel, die den verschiedenen Anforderungen klar getrennte Darstellungsweisen zuordnen wie zum Beispiel „Rainbow Six: Rogue Spear Black Thorn": Einerseits die Egoperspektive wie in klassischen Egoshooter a la „Doom". Andererseits die abstrakte Darstellung des Kriegsspiels. In der schematischen Missionsplanung symbolisieren farbige Linien und Dreiecke die Marschrouten der Soldaten und Kreuze die der Terroristen. Das Durchspielen des zuvor so abstrakt geplanten Jagens und Tötens in drei sehr detailliert dargestellten Dimensionen, wo ein Schuss die Spielfigur und den Blick zu Boden sinken lässt, wirkt produktiv irritierend.
Das Genre der strategischen Simulationen boomt seit Mitte der neunziger Jahre wieder. Doch die heute so beliebten Titel unterscheiden sich gänzlich von den Ursprüngen: Die rundenbasierten Strategiespiele machen weniger als ein Viertel der Neuerscheinungen aus, die Verkaufszahlen sind anteilsmäßig wahrscheinlich noch geringer. Stattdessen absorbieren so genannte Echtzeit-Strategiespiele die meiste Aufmerksamkeit der Spieler. Die grundlegende Form aller solche Titel erfasst eine Eigenschaft: Auch wenn der Spieler nichts tut, entwickelt sich der Spielverlauf weiter. Der Computer berechnet Umweltbedingungen, Handlungen nicht-spielergesteuerter Einheiten fortwährend – und er gibt die Ergebnisse ohne Zeitverzögerung aus.
In rundenbasierten Konfliktsimulationen existiert ein solcher Entscheidungsdruck nicht. Bei diesen Titeln ist nicht das zeitkritische Entscheiden wichtig, sonder das Entscheiden an sich. Das haben diese Titel vom analogen Kriegsspiel übernommen, das statt Aufmerksamkeit zu binden eher valide Ergebnisse liefern sollte. Eben das wurde durch immer wieder neu berechnete Entscheidungsabläufe bei zum Teil leicht veränderten Ausgangsbedingungen erzielt. Die Gliederung diese Rechendurchläufe in Spielrunden hatte einerseits etwas mit den beschränkten Rechenkapazitäten Ende des 19. und selbst Mitte des 20. Jahrhunderts zu tun. Sie ermöglichte aber auch eine tiefere Analyse, die einzelne Entscheidungsschritte isoliert betrachten konnte.
Die Echtzeit-Strategie nimmt hingegen starke Anleihen bei einer anderen Tradition: Actionspielen, in denen die knappe Ressource Zeit immer die wichtigste ist. Das erste Echtzeit-Strategiespiel war wohl deshalb noch eine Mischung aus verschiedenen Genreelementen: „Herzog Zwei", das 1989 für die Konsole „Sega Genesis" erschien, ist im Kern ein klassisches Kriegsspiel: Zwei Spielparteien bemühen sich, die Basis des jeweiligen Gegners zu zerstören. Dazu befehligten die Spieler ihre Truppeneinheiten auf der eigenen Hälfte des geteilten Fernsehschirms. Allerdings fokussierte sich das Spiel die meiste Zeit auf eine einzige Truppeneinheit, die den übrigen weit überlegen war. In diesen Spielphasen war „Herzog Zwei" eher ein Actiontitel.
Die noch heute zu beobachtende Grundform der Echtzeit-Strategiespiele etablierte 1992 der Titel „Dune 2“: Ernten, Aufbauen, Zerstören. Hier musste der Spieler Truppeneinheiten finanzieren, Waffen entwickeln und deshalb den erzielten Gewinn trotz kriegerischer Auseinandersetzungen konstant hoch halten. Der Spieler muss durch die vom Spiel vorgegebene Geschwindigkeit beschränkte Aufmerksamkeit permanent auf unterschiedliche Entscheidungsbereiche verteilen: Wirtschaftsentwicklung, Waffensysteme, Verteidigung.
Die Menge dieser zu treffenden Entscheidungen und der dabei zu verarbeitenden Informationen hat fast jeder auf „Dune 2“ folgende Titel erhöht. Das vor zwei Jahren erschienene „Empire Earth“ umfasste etwa 500000 Jahre gespielte Zeit, unterteilt in 14 in der Kriegsführung grundlegend verschiedene Epochen mit über 200 Einheitentypen und 20 in ihren Strategien unterschiedliche Kulturkreise.
Interessant ist das zunehmende Interesse dieses abstrakten Genres für reale Szenarien. So konfrontiert zum Beispiel der aktuelle Titel „Command and Conquer: Generals“ den Spieler mit einem Spielszenario, das Selbstmordattentätern, Schläfer und in Bagdad versteckte chemische Waffen enthält. Die Terroristen kämpfen hier gegen die Vereinigten Staaten und China – der Spieler kann als jede der drei Konfliktparteien spielen. Frühere Kriegsspiele wie „Empire“ oder „TacOps“ brauchten solche Handlung nicht. Hier pausierte das Spiel niemals, um zu erzählen. Als Geschichte wurden aus der Geschichte allein militärische Einheiten, Fahrzeug- und Waffentypen übernommen. Entsprechende numerische Werte fehlen nun gar völlig in „Command and Conquer: Generals“. Diese neue Tendenz zur Erzählung in den Spielpausen von Echtzeit-Strategie-Titeln war schon in den kommerziell erfolgreichen Titeln „StarCraft“ und „Warcraft III“ zu sehen. Offenbar verlangt eine breite Käuferschicht eine narrative Unterfütterung, die in den Spielpausen nach klassischen Erzählmustern das Spiel umgibt.
Kriegsspiel?
Dennoch sprechen Spiele nicht vom Krieg und nur selten von Gewalt. Denn das geschieht allenfalls außerhalb des Spiels. Die Spiele nutzen allein die entsprechenden Wahrnehmungsmuster, um eine Inszenierung mit konstant hohen, aber nicht zu hohen Anforderungen an seine Spieler zu schaffen. Eine Inszenierung, die so die gesamte Aufmerksamkeit der Spieler absorbiert, indem sie sich ständig an ihr Verhalten anpasst – gewissermaßen die nicht-physische Version von Oswald Wieners Bio-Adapter. Das vom US-Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi geprägte Konzept hinter dem Schlagwort des „flow state" erklärt vielleicht diese Wirkung. Einfach gesagt empfinden Menschen Vergnügen, wenn ihr Können und die an sie gerichteten Anforderungen perfekt aufeinander abgestimmt sind und sie somit im eigentlichen Wortsinn in ihrer Aufgabe aufgehen.
Deshalb muss der seit 1991 bemühte Vergleich des medialen Kriegs mit der Form des Computerspiels präzisiert werden, um überhaupt eine Aussage zu enthalten. Ist damit gemeint, dass die Bilder vom Krieg so abstrakt wie die Aufstellung der Einheiten in Konfliktsimulationen wirken? Oder aber, dass den Opfern allein eine dramaturgische Funktion ähnlich wie in Actiontitel zugestanden wird?
Doch auch so präzisiert griffe der Vergleich zu kurz. Denn ein im Fernsehen inszenierter Krieg wird niemals so auf das Aufmerksamkeitspotenzial seiner Rezipienten reagieren können wie ein Spiel. Die bei fast jedem Titel wählbaren Schwierigkeitsgrade, die in den vergangenen Jahren gewachsene Informations- und Entscheidungsmenge sind nur die sichtbarsten Mittel von Spielen zur Aufmerksamkeitsbindung. Das wesentliche ist der ständig fortlaufende Lernprozess des Spielers, der die Regeln des Spiels begreifen will. Ob der Spieler im Rechentakt des Computers spielt, oder der Rechner im Takt des Spielers unterhält – diese Frage ist nicht zu beantworten.