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Stadt ohne Draht (Bonner Generalanzeiger, 31.5.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Stadt ohne Draht

Ein Firmenkonsortium will das gesamte Pariser Metrogebiet drahtlosem Internetzugang versorgen.

Bonner Generalanzeiger, 31.5.2003

Als die erste Pariser Métrolinie 1900 zur Weltausstellung eröffnet wurden, erzählten sich die Stadtbewohner Schauermärchen über die Katakomben unter der Stadt. Dort hatte man in früheren Jahrhunderten Kalkstein abgebaut und später in den Höhlen die Toten beerdigt. Um den Menschen die Angst vorm Untergrund und der Metro zu nehmen, ließ die Stadt eine zusätzliche Attraktion erbauen: Metroeingänge im Jugendstil. Heute locken die Metrostationen mit einer ganz anderen Attraktion: drahtloser Internetzugang. Ein Firmenkonsortium aus der Unternehmensberatung Cap Gemini Ernst Young, dem Netzwerkausrüster Cisco Systems und der Pariser Metrogesellschaft ist derzeit dabei, ausgehend von den Metrostationen das größte, zusammenhängende drahtlose Netz in Europa zu spannen.

Die sind in Westeuropa nicht so dicht gewebt, wie die große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vermuten lässt. Anfang des Jahres gab es laut dem Analystenhaus IDC in Westeuropa nur gut 1000 so genannte Hotspots, also ans Netz angeschlossene Sende- und Empfangsstationen, mit denen Laptops oder andere Geräte drahtlos kommunizieren können. IDC sieht große Chance für die Technologie – wenn ein entscheidendes Problem überwunden wird. „Ohne die Möglichkeit, problemlos von einem Hotspot zum anderen zu wechseln, wird es schwer sein, eine stabile Kundenbasis zu schaffen“, sagt Evelien Wiggers, IDC-Analystin für den europäischen Telekommunikationsmarkt.

Derzeit gleicht die europäische Infrastruktur in dem Bereich einem Flickenteppich: Viele kommerzielle Anbieter mit jeweils eigenen Bezahlmodellen tummeln sich neben weit mehr privaten Hotspots, die Menschen als Hobby betreiben. Die Bandbreite des jeweiligen Internetzugangs schwankt, zudem sind nicht alle privaten Hotspots rund um die Uhr verfügbar. IDC sieht daher in der Zukunft kommerzielle Angebote dominieren: Ein einheitliches Bezahlsystem vorausgesetzt, sollen bis 2007 gut 32000 Hotspots entstehen – und einen Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Euro erwirtschaften.

Ein solches zusammenhängendes Netz soll nun in Paris entstehen. „Uns fällt keine andere Stadt ein, in der eine drahtlose Infrastruktur flächendeckend vorhanden ist", sagt Ian Phillips, bei Ciscos verantwortlich für das Marketing mobiler Internet-Lösungen. Noch läuft in Paris nur die erste Testphase. 13 Metrostationen sind derzeit vernetzt, mehr als 1000 Nutzer haben sich in den ersten sechs Wochen angemeldet – ohne dass Werbung geschaltet wurde. Basierend auf den Ergebnissen dieses ersten Versuchs entscheiden die Projektpartner über den weiteren Ausbau. Jean-Paul Figer, Technologiechef bei Cap Gemini, rechnet damit, dass noch in diesem Jahr der Ausbau beginnt.

Die eigentlichen Internetzugänge und damit verbundenen Dienstleistungen sollen unterschiedliche Internet-Anbieter zu frei wählbaren Bedingungen anbieten. So könnten Anbieter zum Beispiel für Unternehmen virtuelle private Netzwerke schaffen. So wäre es möglich Mitarbeiter, die daheim oder bei Kunden arbeiten, aber auch Kuriere, Lastwägen und dergleichen mit einer zentralen Datenbank zu vernetzt und Informationen austauschen zu lassen. Private Kunden könnten einen einfaches Angebot wählen, um einfach im Park oder Café ihre E-Mails zu beantworten. Einem internen Bericht der Deutschen Telekom zufolge, aus dem der Branchendienst „The Feature" zitiert, sollen 90 Prozent aller Anwendungen zur Datenübertragung besser über drahtlose Netzwerke als über den neuen Mobilfunkstandard UMTS abgewickelt werden können. Angesichts der langsamen Verbreitung des neuen Mobilfunkstandards UMTS zeichnen sich derzeit noch ganz andere Anwendungen ab: Cisco will ab Juni in den Vereinigten Staaten ein Mobiltelefon anbieten, dass mit speziell ausgerüsteten Hotspots Telefongespräche über Firmennetzwerke und das Internet abwickelt.

In den Vereinigten Staaten arbeitet derzeit ein Konsortium aus dem Telekommunikationsriesen AT&T, Chiphersteller Intel und IBM an einem landesweiten drahtlosen Netzwerk. Die US-Tochter von T-Mobile will 100 Millionen Dollar in eine ähnliche Infrastruktur investieren.

Doch derzeit ist Paris diesen Projekten voraus – auch bei den Kosten. Die sollen laut Jean-Paul Figer, Technologiechef bei Cap Gemini, für alle 372 Metrostationen bei nur 3,5 bis maximal 10 Millionen Euro liegen. Das ist für die Vernetzung einer gesamten Großstadt wenig – vor allem im Vergleich zur UTMS-Infrastruktur, die ähnliche Dienstleistungen ermöglichen soll, aber in die derzeit wegen der immensen Kosten kaum ein Anbieter investieren will. Der Vorteil in Paris ist das Glasfasernetz der Metrogesellschaft. Die Kabel verlaufen zwischen den Bahnhöfen in allen Tunneln, dabei wird aber nur ein Bruchteil der Bandbreite genutzt. Die einst so gefürchteten unterirdischen Katakomben sind also zum Standortvorteil für Paris geworden.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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