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Star im Blaumann (Frankfurter Rundschau, 22.11.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Star im Blaumann

Super Mario und die Krise der Erwerbsarbeit

Frankfurter Rundschau, 22.11.2002

Millionen Menschen verbringen mit ihm ihre Freizeit. Doch Mario, Held von mehr als 40 Computerspielen, existiert nur als Arbeiter. 1980, als der japanische Spieldesigner Shigeru Miyamoto ihn schuf, hieß Mario noch Jumpman. Die Funktion definierte seine gesamte Existenz: Jumpman tat nichts anderes als umherzuspringen. Drei Jahre später erkannte der Hersteller Nintendo, dass die Figur Jumpman das Potential zum Star hatte. Also bekam er den Namen Mario, und sein Charakter etwas mehr Tiefe: Mario wurde Klempner. Das neue Spiel Super Mario Sunshine treibt die Parabel zur Erwerbsgesellschaft noch ein wenig weiter. Mario zeigt diesmal, wie Freizeit als Erwerbsarbeit funktioniert.

Eigentlich hätte der schnauzbärtige Held, der standesgemäß immer im Blaumann herumläuft, sich nach über 20 Jahren zurücklehnen und die vielen Goldmünzen und anderen Schätze verprassen können, die er bisher gesammelt hat. In Super Mario Sunshine macht Mario tatsächlich Urlaub. Nur verprasst er auf der Urlaubsinsel Delfino sein Geld keineswegs. Im Gegenteil: Auch in der hitzeflirrenden Luft akkumuliert Mario weiter Kapital. Er kann einfach nicht von der Arbeit lassen und hüpft weiter den goldenen und blauen Münzen nach. Der Erfolg im Spiel bemisst sich nach der Anzahl der gesammelten Münzen und Gegenstände. Und mit diesem Verdienst steigt auch die Bewegungsfreiheit des Spielers. Anders als bei früheren Titeln ist die Reihenfolge, in der man die Regionen der Spielwelt erlebt, relativ festgelegt. Um weiterzukommen, muss man sammeln. Für 100 Goldmünzen gibt es ein Sonneninsignium. Und mit jedem dieser Insignien kommt man ein wenig weiter in der Spielwelt. Die Leistung wird in Münzen gemessen, von denen man in möglichst kurzer Zeit so viele wie möglich anhäufen soll. Natürlich unterfüttert das Spiel diese simplen Gesetze narrativ. Jemand, der Mario sehr ähnlich sieht, überzieht die Insel mit einer glibberigen Farbschicht. Das Paradies ist in Gefahr, und Mario unter Verdacht. Nach der Landung seines Ferienfliegers kommt er erst mal ins Gefängnis, dann vor Gericht und schließlich wieder raus – um die Insel mit einer Wasserkanone von den Farbverwüstungen zu reinigen. Doch diese Handlung tritt im eigentlichen Spiel in den Hintergrund, es zählt dann die physische Arbeit, das Sammeln um seiner selbst willen.

So wie Marios vermeintlicher Urlaub schweißtreibende Arbeit ist, so arbeiten auch die Spieler in ihrer Freizeit gemäß den Gesetzen der Erwerbsarbeit, deren universelle Gültigkeit doch eigentlich längst als überholt gilt. Nur ist sie es nicht. Wenn Ende des Jahres das Spiel Sims online erscheint, werden Menschen Gesellschaften aufbauen und erleben können, in denen das Leben nach dem Ideal aus Zeiten der Vollbeschäftigung funktioniert: Identität definiert sich über Arbeit, Glück und die Anzahl der Freunde steigt mit dem Einkommen. Von post-materiellen Werten oder gar einer neuen Bescheidenheit ist bei Computerspielen – außer einem gelegentlichen Hauch von Ironie – nichts zu spüren.

Und das macht sie so beliebt. Besonders gut lässt sich das derzeit bei Onlinerollenspielen beobachten, bei denen einige zehntausend Spieler interagieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova von der California State University betrachtet in einer Studie die Menschen in der Welt des Spiels Everquest nicht als Spieler, sondern als Arbeitende: "Was die Leute dort machen, kann man als Arbeit bezeichnen. Für Ökonomen gilt alles als Arbeit, was ein Mensch tut, um einen Gewinn zu erzielen. Es gibt in Everquest einen Markt für Dienstleistungen. Die werden unterschiedlich bezahlt. Wenn der Job langweilig ist, ist er besser bezahlt. Das ist normal. Auf allen Märkten der Welt sieht man solche Unterschiede."

Gerade diese Unterschiede reizen die Spieler. In Onlinerollenspielen entstehen Gesellschaften, in denen die soziale Position viel exakter zu beziffern ist als außerhalb. So genannte Erfahrungspunkte drücken aus, wie viele Siege, wie viele Niederlagen ein Spielcharakter erfahren hat. Je mehr Erfahrungspunkte man hat, desto mächtiger wird man, desto mehr Geld kann man verdienen. Das Bruttoninlandsprodukt im Spiel Everquest liegt je nach Berechnungsmethode irgendwo zwischen dem Bulgariens und Russlands – bei einer ähnlich unausgewogenen Einkommensverteilung wie in südamerikanischen Staaten. Spielwelten wie die von Everquest folgen denselben wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wie jene außerhalb der Server.

Mit einem wesentlichen Unterschied: In ihnen wird niemand je ohne Aufgabe, ohne Arbeit sein. Vor einigen Jahren beobachteten Soziologen wie Ulrich Beck, dass junge Menschen sich nicht mehr allein über die Arbeit definieren. Doch dieser Trend scheint sich ins Gegenteil verkehrt zu haben. Dass Mario seinen Urlaub hüpfend, rennend, schwimmend und schwitzend auf der Jagd nach Goldmünzen und mehr Freiheit verbringt, ist kein Zufall. Mario ist der Prototyp des Menschen in der Krise der Erwerbsarbeit: Er organisiert seine Freizeit nach den Gesetzen der Arbeitswelt – gerade, weil Erwerbsarbeit fehlt. Spiele wie Die Sims oder Everquest schaffen die inzwischen Fiktion gewordenen vollbeschäftigten Erwerbsgesellschaften neu. Es fällt offenbar auch dem eher jungen Publikum schwer, außerhalb der Arbeit Sinn und Selbst zu finden. Super Mario Sunshine ist einer der letzten sonnig warmen Nachmittage der Erwerbsarbeit mitten im Herbst der Rezession. Ein Glück für den Helden. Denn was wäre schon ein Mario, der nicht im Blaumann springt, rennt und stampft?

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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