Staumeier (Frankfurter Rundschau, 20.7.2004)
Staumeier
Schlaue Elektronik im Auto steuert Tempo und Abstand – und hält vielleicht auch bald den Verkehr im Fluss
Frankfurter Rundschau, 20.7.2004
Die schlechte Nachricht: Ferienstaus wie in diesen Tagen wird es immer geben, wenn die Niederlande, halb Frankreich und ein beachtlicher Teil Deutschlands gleichzeitig in den Urlaub starten. Die gute Nachricht: Die alltäglichen Staus aus dem Nichts könnten in den nächsten Jahren schwinden – als Nebeneffekt einer Technik, die immer häufiger in Autos steckt: der automatischen Geschwindigkeitsanpassung "Adaptive Cruise Control", kurz ACC genannt.
Wie bei einem Tempomat geben die Fahrer ihre Wunschgeschwindigkeit an. Um die kümmert sich der ACC-Chip – und um den Abstand nach vorne. Das System nimmt so lange Gas weg, bis die Entfernung stimmt. Die Elektronik bremst auch, allerdings höchstens mit einem Viertel der möglichen Kraft. Ist mehr nötig, schlägt das System Alarm, und die Fahrer müssen eingreifen. Ist der Weg frei, beschleunigt ACC auf die eingestellte Geschwindigkeit zwischen 30 und 180 Kilometer pro Stunde.
Diese Arbeit erledigt die Elektronik effizienter als die Fahrer – sofern die nicht hoch konzentriert bei der Sache sind. Die meisten Autolenker neigen zu Übertreibungen. Hauptgrund für die alltäglichen Staus aus dem Nichts ist laut Wolfgang Knospe von der Arbeitsgruppe "Physik von Transport und Verkehr" der Universität Duisburg eine "unregelmäßige Fahrweise", die er einmal so beschreibt: "Der erste Fahrer bremst plötzlich ab, der zweite bremst dann noch ein wenig stärker – und ein Wagen weiter hinten bleibt dann ganz stehen." Ein Grund für abrupte Bremsmanöver ist, dass Autofahrer manchmal spät, aber heftig auf Verkehrssituationen reagieren – je nachdem, was im Radio läuft oder worüber Beifahrer plaudern. Dem digitalen Kopiloten passiert so etwas nicht. Schon ACC-Pionier Professor Petros Ioannou von der University of Southern California lobte die schnelle Reaktion und gleichmäßige Geschwindigkeitsregulierung seiner Prototypen als mögliches Mittel gegen stockenden Verkehr.
Den Effekt haben nun einige Forscher mit Computermodellen untersucht – und unter bestimmten Bedingungen bestätigt. Der US-Physiker Craig Davis konnte bei seiner Arbeit in den Ford Forschungslabors und an der Michigan State University feststellen, dass es auf einer einspurigen Straße mit einer hohen durchschnittlichen Geschwindigkeit nicht zur bekannten Stau-Kettenreaktion hinter abrupt bremsenden Autos kommt, wenn wenigstens jedes fünfte Auto dahinter mit ACC fährt.
Allerdings scheint die Technik nicht immer zu helfen. An Verkehrskreuzungen etwa bringen schlau gesteuerte Wagen keinen wesentlich flüssigeren Verkehr in der Modellrechnung. Ein Grund dafür könnte sein, dass Davis in seiner Simulation Wagen mit und ohne aktiviertem ACC denselben Abstand zum Vordermann einhalten ließ. Allerdings vermuten einige Wissenschaftler, bräuchten Wagen mit ACC weniger Platz nach vorne für die selbe Fahrsicherheit. Martin Treiber von der Technischen Universität Dresden etwa sagt, mit Kopilot genüge die Hälfte des für menschliche Fahrer empfohlenen Mindestabstand für sicheres Reisen – weil die Technik schneller reagiert. Treiber hat mit Dirk Helbing, Professor für Verkehrsökonometrie und -modellierung, diesen Unterschied der zulässigen Abstände in Modellen berücksichtigt. Ergebnis: Mehr Wagen mit aktiviertem ACC lassen den Verkehr generell flüssiger laufen.
Wie dieser in Zukunft fließen wird, hängt also – abgesehen vom Wachstum des Verkehrsaufkommens und Straßennetzes – zum einen von der Verbreitung von ACC, zum anderen von der Nutzung der Systeme ab. Zumindest eine relativ weite Verbreitung scheint wahrscheinlich. Derzeit ist ACC zwar noch Autos der gehobenen Klassen wie dem Audi A8 oder 7er BMW vorbehalten, doch Marktbeobachter rechnen mit mehr ACC auch in anderen Modellen. Die Analysten des New Yorker Marktforschers ABI erwarten, dass Honda, Toyota und Nissan die Systeme dazu nutzen werden, ihre Mittelklasse- und Kleinautos von anderen Anbietern abzuheben. Für die Unternehmensberatung Frost & Sullivan sind Systeme wie ACC bis zum Jahr 2010 der Wachstumsmotor für den Pkw-Absatz.
Die Zukunft der Kopiloten hört nicht bei der Staubekämpfung auf – zumindest nicht für den Frost & Sullivan Analysten Anil Valsan. Zwar vermarkten die Autobauer ACC nicht als Sicherheits-, sondern als Komfortzubehör – aus Angst vor den Konsequenzen bei Fehlfunktionen. Doch Valsan geht einen Schritt weiter. Weil ACC Autos erstmals sehen lässt, ist die Technik für ihn der Vorläufer für Systeme zur Kollisionsvermeidung.
In eine andere Richtung forscht der MAN-Konzern: Automobile sollen gewonnene Informationen über das Verkehrsgeschehen austauschen und Reaktionen abstimmen. Auch wenn das weit entfernt klingt, zieht die Denkrichtung eine wichtige Erkenntnis aus den Forschungsergebnissen der Stau-Forscher: Der Verkehr läuft oft flüssiger, wenn einzelne, mäßig intelligente Systeme mit beschränktem Entscheidungshorizont an kleineren Problemen arbeiten. Im Zusammenspiel lösen sie größere Probleme. Das kollektive intelligente Verhalten lässt sich nicht auf eine zentrale Entscheidungsinstanz oder bewusst geteilte Planung der Akteure zurückführen. Ganz wie in einem Ameisenhaufen. Hat man je von Staus im Ameisenbau gehört?
Geschwindigkeitsregler
Zur Tempoanpassung bringt ACC dem Wagen Sehen und intelligentes Reagieren bei. Seine Umwelt beobachtet das Auto über ein Langstreckenradar, das Fahrzeuge bis zu 120 Meter im voraus erkennt. Ein zweites Radar für Entfernungen unter 14 Meter ist noch nicht serienreif. Es soll bald ACC-Systeme für den Stop-and-go-Verkehr ergänzen. Zur Geschwindigkeitsregulierung zieht der ACC-Chip auch Umweltinformationen und Fahrzeugdaten wie Raddrehzahl und Lenkwinkel heran. Die Eingriffsmöglichkeiten der Elektronik sind strikt begrenzt, sie unterstützt die Fahrer nur. Zurecht, denn in Kurven verlieren die Sensoren teilweise den Überblick, und Motorräder am Rand des Fahrstreifens übersieht das System manchmal. Bei Nebel, Regen und auf glatten Straßen soll ACC ohnehin nicht benutzt werden.