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Strategiewechsel: New York Times macht Web-Archiv kostenlos (Spiegel Online, 18.9.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Strategiewechsel

New York Times macht Web-Archiv kostenlos

Sämtliche Artikel aus 92 Archiv-Jahrgängen und alle Kolumnen der Edelfedern bietet die "New York Times" von morgen an kostenlos im Netz. Vom Gratisangebot erhofft sich das Management mehr Google-Treffer, neue Leser – und ein zweistelliges Wachstum der Werbeumsätze.

Spiegel Online, 18.9.2007

Es war ein langsamer Tod: Timesselect, das Online-Bezahl-Angebot der "New York Times" siechte zuletzt dahin. Den grellen Orangeton, der die Exklusiv-Artikel markierte, sahen Leser kaum noch auf Nytimes.com. Die entsprechenden Online-Abos verschenkte man seit Monaten an jeden Interessenten mit einer E-Mail-Adresse von einer US-Universität. Morgen verschwindet Timesselect endgültig – genau zwei Jahre nach dem Start des Angebots. Das Ende des Online-Abos habe man seit Monaten geplant und verschiedene Geschäftsmodelle durchgespielt, erklärte die Nytimes.com-Geschäftsführerin Vivian Schiller dem Fachmagazin Paidcontent. Von morgen an bietet Nytimes.com diese Inhalte kostenlos an:

  • Beiträge von 23 prominenten Kolumnisten
  • alle Inhalte des "New York Times"-Archivs von 1986 bis heute
  • Archiv-Material der "New York Times" von 1851 bis 1922
  • Such- und Archiv-Werkzeuge wie den "News Tracker" und das persönliche Times-Archiv

Kostenpflichtig bleiben nur die originalgetreue Digital-Ausgabe der gedruckten Zeitung in einem besonderen Software-Format (14,95 Dollar monatlich), die Online-Version des Kreuzworträtsels und Archiv-Inhalte aus der der Zeit zwischen 1922 und 1986.

Nur zehn Millionen Dollar Abo-Einnahmen jährlich

Den Schritt zum Gratisangebot begründet das Management mit dem Potential eines komplett freien Angebots auf höhere Werbeumsätze. Geschäftsführerin Schiller erklärt im eigenen Blatt: "Unsere Prognosen für das Umsatzwachstums auf Basis des Abo-Modells waren geringer im Vergleich zum Wachstum durch Online-Werbung." Sie betont, Timesselect sei ein Erfolg gewesen.

In einer internen Mail an die Mitarbeiter heißt es, sie könnten "sehr stolz auf ihre Leistung sein". Offiziell beziffert das Management die Timesselect-Einnahmen auf zehn Millionen Dollar jährlich. "Es hat funktioniert, das ist wirklich wichtig", betont Schiller in Interviews. Nun veröffentlichte Abo-Zahlen für Timesselect sollen das belegen:

  • 471.200 Print-Abonnenten erhielten den Timesselect-Zugang kostenlos als Beigabe
  • 89.200 Universitäts-Angehörige erhielten das Abo kostenlos
  • 227.000 Web-Abonnenten zahlten tatsächlich für Timesselcet (49,95 Dollar jährlich/7,95 monatlich)

 Medien-Experten sind von diesen Zahlen beeindruckt, bezweifeln aber den wirtschaftlichen Erfolg. Wie viel Geld man für die Vermarktung der Abo-Angebote und die zusätzlichen für Timesselect produzierten Beiträge ausgegeben hat, bleibe unerwähnt, kritisiert Jeff Jarvis, Medien-Reporter und Leiter des Journalistenschule der City University of New York, in seinem Fach-Blog. Er zollt Timesselect allerdings Respekt für den gewonnen Abonnenten-Stamm: "Sie haben wahrscheinlich den größtmöglichen Kreis an zahlenden Kunden gewonnen – dennoch war das von Anfang an eine schlechte Idee."

Ähnlich hatte schon Anfang 2006 Alan Rusbridger, Chefredakteur der britischen Tageszeitung "Guardian", gegen das Timesselct-Modell argumentiert. Bei einer Rede vor der "Royal Society for the Encouragement of Arts" sagte er damals, die Abo-Einnahmen würden nicht einmal die Gasrechnung der "NYT"-Zentrale decken können.

Mehr Aufmerksamkeit, mehr Anzeigenerlöse

Das soll nun der Gratis-Auftritt ändern. Die Argumentation des Nytimes.com-Managements: Archiv-Material ohne Bezahlschranke wird verlinkt, bringt gute Google-Treffer, lockt so neue Leser. Ähnlich hatte sich im August der Neu-Eigentümer des "Wall Street Journals" Rupert Murdoch geäußert. Er soll ein Ende des Bezahl-Modells bei WSJ.com planen.

VORTEILE DER GRATISSEITE: DIE RECHNUNG AM BEISPIEL "WSJ.COM"

Sonderfall "WSJ.com"
Die Internetseite des US-Wirtschaftsblatts "Wall Street Journal" ist das letzte komplett kostenpflichtige Web-Angebot einer US-Zeitung. Im August bestätigte Neu-Eigentümer Murdoch in einem Analystengespräch, dass seine Manager bereits ein Ende des Abo-Modells bei "WSJ.com" prüfen. Das wäre wäre ein gewaltiger Schritt für die Branche – "WSJ.com" hat immerhin fast eine Million zahlender Leser gewonnen, bei einem Jahres-Abo-Preis von 79 Dollar

Abo-Erlöse bislang
Douglas Anmuth, Analyst für Internet und Medien bei der US-Investmentbank Lehman Brothers, schätzt in einem Bericht, dass sich die Einnahmen von "WSJ.com" in diesem Jahr so verteilen: 65 Millionen Dollar Abo-Erlöse, 75 Million Dollar Werbegelder.

Wertvolle Anzeigenplätze
Eine aufgerufene Seite bringt beim komplett kostenpflichtigen "WSJ.com" viermal so viel Werbegelder wie bei der weitgehend kostenfreien – und beliebten – Konkurrenz von "Nytimes.com". Sprich: Die zahlenden Kunden bei "WSJ.com" sind Werbetreibenden mehr wert als die vielen, nicht so attraktiven Online-Leser der "New York Times." Deshalb darf man die heutigen Werbeeinnahmen von "WSJ.com" pro Seitenaufruf nicht einfach linear für eine wachsende Leserschaft hochrechnen – denn die neuen Leser werden Werbekunden wahrscheinlich nicht so viel wert sein wie die heutigen.

Das nötige Wachstum
Analyst Douglas Anmuth sagt beim "Wall Street Journal" für die erste Zeit nach einer etwaigen Umstellung einen Umsatzeinbruch voraus: "Die Einnahmen werden deutlich sinken." Mittelfristig müsse "WSJ.com" kräftig neue Leser dazugewinnen, um erfolgreich zu bleiben. Denn durch die Umstellung dürften die Anzeigenplätze an Wert verlieren. Aber auf lange Sicht ist Anmuth optimistisch: Die Nutzerzahl werde wachsen, die Werbeeinnahmen dürften steigen. Vor allem, weil die Seite ihre heutigen Leser nicht durch den Wechsel des Geschäftsmodells verlieren wird.  

In den vergangen zwei Jahren habe sich das Web verändert, argumentiert Nytimes.com-Geschäftsfürherin Schiller im eigenen Blatt: "Wir haben nicht das rasante Wachstum der von Google, Yahoo und einigen anderen kommenden Besuchern erwartet." Inzwischen würde die Mehrheit der Leser über Links kommen, nur eine Minderheit nutze Nytimes.com als Primärquelle.

Kostenlos-Archiv soll Anzeigenwachstum bringen

Vor diesem Hintergrund gewinnt der Entschluss, fast das gesamte Archiv kostenlos online verfügbar zu mache, an Bedeutung. Hiervon verspricht sich die Times einen Popularitätsschub. Die Rechnung: mehr Google-Treffer, mehr Leser, mehr Anzeigen-Umsätze. Gegenüber dem Branchendienst Paidcontent wird Geschäftsführerin Schiller deutlicher: "Denken Sie über diese Formel nach: Millionen neuer Dokumente, alle für Suchmaschinen optimiert, zweistelliges Wachstum der Anzeigenumsätze."

Expertise für Suchmaschinen-Optimierung hat sich der Times-Konzern vor zwei Jahren eingekauft: Damals übernahm Nytimes.com für 410 Millionen Dollar das Webangebot About.com, eine Mischung aus Netzlexikon und Ratgeberportal. About.com war immer schon kostenlos, beliebt und für gute Trefferplätze bei Google-Suchen optimiert – so Medien-Reporter Jeff Jarvis, der bis zum vorigen Dezember als Berater für das Angebot gearbeitet hat. Er nennt About.com heute eine "großartige Demonstration der wirtschaftlichen Kraft von Suchmaschinenoptimierung".

In der Tat kommen 95 Prozent der Einnahmen von About.com heute aus Anzeigen. So soll das Verhältnis in Zukunft auch beim Webauftritt der "New York Times" aussehen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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