Zum Inhalt springen

Streit im Web-Lexikon: Wikipedia-Gründer darf nicht mitschreiben (Spiegel Online, 30.9.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Streit im Web-Lexikon

Wikipedia-Gründer darf nicht mitschreiben

Von wegen Mitmach-Lexikon: Wikipedia-Vater Jimmy Wales schreibt über ein Restaurant. Der Beitrag wird als irrelevant gelöscht. Tagelang diskutieren Wikipedianer. Ergebnis: 6200 Zeichen Artikel, 46.380 Zeichen Streit. Ein Beispiel für die Wikipedia-Kriege der Zukunft.

Spiegel Online, 30.9.2007

Mzoli Ngcawuzele begann als Metzger. 2003 verkaufte er in einer Garage in einem Township bei Kapstadt Fleisch, arbeitete sich dann hoch, machte in vier Jahren aus der Mini-Metzgerei einen kleinen Freizeitkomplex mit Imbiss, Disco und Restaurant. "Mzoli’s Place" ist heute einer der beliebtesten Ausgehorte in Kapstadt – und Gegenstand einer heftigen Grundsatzdebatte beim Mitmach-Lexikon Wikipedia. Streitfrage: Ist die Geschichte der Fleischerei relevant?

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales war bei Mzoli essen, schrieb einen Lexikoneintrag. 22 Minuten später löscht den ein anderer Nutzer. Begründung: Irrelevant! Entschieden hat das Chad Horohoe, ein 19-jähriger Amerikaner, der bei Wikipedia sogenannte Administratoren-Rechte hat. Dazu gehört es, Artikel löschen oder wiederherstellen und Konten sperren zu können. Diese Privilegien verleihen Wikipedia-Mitglieder per Abstimmung, stimmberechtigt sind alle mit einer gewissen Vorerfahrung. Das soll garantieren, dass sie ihre Vorbildfunktion erfüllen.

Bei Horohoe hat das offenbar nicht geklappt: Seine Entscheidung, den Artikel des Wikipedia-Gründers zu löschen, provoziert heftige Reaktionen: Wikipedia-Nutzer und -Administratoren streiten tagelang über die Relevanz eines Imbisses in Südafrika, den zuvor wohl keiner von ihnen kannte. Und manche kochen dabei vor Wut.

"Wir sind nicht die Gelben Seiten"

Horohoe verteidigt seine Entscheidung: Das Restaurant sei nicht bemerkenswert, sei kaum in der Presse erwähnt worden – so etwas habe keine Berechtigung bei Wikipedia. "Wir sind weder die Gelben Seiten noch ein Reiseführer."

Daran müsse sich auch der Wikipedia-Gründer halten. Wieder einmal bekomme Jimmy Wales einen "gott-gleichen" Status und werde "über die Regeln gestellt". Andere Mitgleider stimmen ein, werfen Wales schlampige Recherche und sogar getarnte Werbung vor. Da platzt dem Wikipedia-Gründer der Kragen. Einige dieser Kritiker sollten sich "von dem Projekt verabschieden und ein neues Hobby suchen".

Am Ende wird der Artikel über Mzoli’s Place wiederhergestellt. Nach vielen Ergänzungen umfasst er inzwischen 6200 Zeichen – die Dokumentation der Debatte über seine Berechtigung hat etwa 46.380 Zeichen.

Artikeldiskussionen gefährden die gute Stimmung

Das ist ein Zeichen für einen Stimmungsumschwung im Mitmach-Lexikon. Der Medienwissenschaftler und Wikipedia-Administrator Andrew Lih beschreibt in seinem Blog die neue Stimmung: "Die wesentlichen Tätigkeiten bei Wikipedia werden bald das Löschen, Stutzen, Zitieren und Hinterfragen von Beiträgen sein." Das sei ein großer Unterschied zu der anfänglichen Stimmung des "Jeder kann mitmachen".

Lih sieht eine harte Zeit für die Wikipedianer kommen: "Sie müssen begreifen, dass Wikipedia einfach nicht immer wachsen wird, dass jetzt eine besondere Zeit angebrochen ist, bevor das Lexikon endgültig in den Wartungsmodus geht."

Je weniger Themen von Wikipedia unbeackert sind, desto heftiger werden die bestehenden Artikel debattiert, ergänzt, überarbeitet. Die am intensivsten redigierten Wikipedia-Beiträge der vergangenen Tage, Wochen oder Monate dokumentiert das Werkzeug Wikirage.

Ein Blick in diese Top-100 zeigt: Wartungsmodus bedeutet Diskussionen über die Relevanz neuer Themen, Debatten über winzige Details, minutiöse Recherchen und Argumentationsketten: Und natürlich: Erbitterte Streitereien zwischen Experten und ahnungslosen, notorischen Besserwissern.

Hier die vier absurdesten Wikipedia-Debatten:

Freddie oder Fred?

Der Hollywood-Schauspieler Fred Thompson will US-Präsident werden. Er bewirbt sich um die Kandidatur der Republikaner. Seine politischen Ansichten sind sehr konservativ, er will mehr Geld fürs Militär ausgeben und die Steuern senken. Thompson ist gegen Abtreibung und für Waffenbesitz. Eine umstrittene Persönlichkeit.

Bei Wikipedia reduziert sich die Kontroverse auf ein scheinbar sachliches Detail: Soll Thompson bei Wikipedia Fred oder Freddie heißen? Genannt haben die Eltern Thompson Freddie Dalton, doch seit mehr als 30 Jahren nennt er sich Fred.

Bei Wikipedia ändern immer wieder mal Nutzer den Namen, mal heißt Thompson Fred, mal Freddie. Ein Fred-Fan moniert: Wer Freddie sage, wolle Thompson nur "lächerlich" machen, der Mann vermeide den Namen seit Jahrzehnten.

Die Argumente für Freddie: Thompson wurde als Freddie geboren und habe seinen Namen nie offiziell geändert: "Es ist nicht unsere Aufgabe zu entscheiden, was lächerlich sein könnte, sondern was korrekt ist", schreibt ein Freddie-Befürworter. Falsch, entgegnet ein anderer, nach kalifornischem Recht gelte ein Name automatisch, wenn man ihn lange genug nutze. Und so weiter.

Vossstraße oder Voßstraße?

Ausgerechnet die englischsprachige Wikipedia widmet der Berliner Voßstraße einen umfassenden (6500 Zeichen!) Beitrag. In der deutschen Version hat ihr niemand einen Artikel gewidmet. Noch verblüffender ist der Umfang der Diskussion über die korrekte Schreibung der Voßstraße: Gut 97.000 Zeichen Text umfasst die Seite derzeit – und das, obwohl ein Foto des Straßenschildes ganz oben auf der Seite prangt. Deutlich zu erkennen: Auf Berliner Straßenschildern schreibt man Voßstraße.

Aber darum geht es nicht. Sondern um die korrekte Übertragung ins Englische. Schließlich hat man nicht überall Tastaturen mit einem ß.

Buchstabenbreite auf Kennzeichen

Eine angenehm sachliche Diskussion führten deutschsprachige Wikipedianer über die korrekte Angabe der Buchstabenbreite auf amtlichen Kennzeichen. Komisch ist die Diskussion trotzdem: Sie beginnt mit einem Widerspruch. Wikipedianer Plippo bemerkt, dass der Beitrag zu deutschen KFZ-Kennzeichen behauptet, Zeichen wie "W" oder "M" seinen "besonders breit". Der Artikel über die FE-Schrift (ja, die gibt es – eine "fälschungserschwerende" amtliche Kennzeichenschrift) nenne alle Zeichen "gleich breit".

Ergebnis: Alle Buchstaben sind gleich breit, doch bei Kennzeichen mit acht Zeichen wird die Engschrift-Version der FE-Schrift genutzt. Alles klar?

Wie groß ist der Todesstern? 

Es gibt keinen Todesstern. Das ist eine fiktive Kampfstation in den Star-Wars-Filmen. Aber eine heiß diskutierte: 9500 Zeichen umfasst der englischsprachige Wikipedia-Eintrag zum Todesstern – fast 90.000 Zeichen hat die Debatte über die Detailinformationen. Besonders umstritten: die Größe. 120 Kilometer Durchmesser? Oder 160? Es gibt Belege (auf Fan-Seiten) für beide Angaben.

Ein Nutzer rechnet die verschiednen Zahlen hoch, vergleicht sie mit der im Film genannten Mannstärke und fasst die Diskussion trocken zusammen: "Ein Besatzungsmitglied je Kubikkilometer? Ist das nicht lächerlich? Wie auch immer, schon die Idee, dass jemand etwas so nutzloses wie den Todesstern baut, ist ebenfalls lächerlich."

© SPIEGEL ONLINE 2007
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert