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Such-Gigant: Geschwätziger Google-Dienst provoziert Datenschutz-Panik (Spiegel Online, 27.12.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Such-Gigant

Geschwätziger Google-Dienst provoziert Datenschutz-Panik

Googles kostenloser RSS-Reader verrät aller Welt, was unvorsichtige Nutzer lesenswert finden – Sado-Maso-Blogs, Katzenwitze und so weiter. Die Nutzer protestieren, Medien wittern den Datenschutz-Gau – dabei könnte jeder den Plapper-Dienst mit ein paar Mausklicks zügeln.

Spiegel Online, 27.12.2007

Google hat AnnaB angeblich einen Weihnachts-Familienstreit beschert. Wie, beschreibt die Google-Nutzerin detailliert in einem Google-Forum: Sie hat andere politische Ansichten als ihr Bruder, empfiehlt Gleichgesinnten manchmal interessante, meinungsstarke Artikel. Nun hat sie dafür eine neue Funktion von Googles Nachrichten- und Blog-Scanner Google Reader benutzt: Mit einem Mausklick kann man jeden Artikel mit seinen Freunden teilen. Dumm nur, dass Google AnnaBs Bruder plötzlich zu ihren Online-Freunden rechnet: Er bekam ein Meinungsstück, stritt mit seiner Schwester, ein paar Familienmitglieder ergriffen Partei.
Diese angeblich wahre Geschichte klingt nach einer Petitesse – doch die neue Geschwätzigkeit des Google Reader hat viele Nutzer erzürnt. Seit zwei Wochen häufen sich im offizielle Google-Forum zum Dienst negative Kommentare. Das grundlegende Problem: Früher musste man bewusst auswählen, wer als Freund gilt, wen man über interessante Artikel informiert. Dann änderte Google das Verfahren und stufte jeden Nutzer als Freund ein, mit dem man schon einmal über Google Talk gechattet hat.

Diese Änderung empört einige Google-Nutzer. Ihre Kommentare im Forum:

  • "Was ist, wenn ich eine Sado-Maso-Gruppe abonniert, ein paar guten Freunden Artikel von dort geschickt habe? Und jetzt heißt es plötzlich: Frohe Weihnachten Mama, rate mal, was ich in meiner Freizeit mache!"
  • "Ich teile hier vertrauliche Informationen mit bestimmen Menschen und nun kann jeder in meiner Kontaktliste sehen, was ich geteilt habe. Das ist die Idee eines Idioten, abgenickt von einem Spinner. Wenn ich zu einem albernen sozialen Netzwerk gehören wollen würde, wäre ich MySpace-Mitglied geworden."
  • "Bitte macht aus dem besten RSS-Reader im Web nicht das schlechteste soziale Netzwerk!" 

Näher betrachtet, illustriert die ganze Aufregung um den geschwätzigen Google Reader zwei Grundregeln des Web 2.0.

  • Anbieter versuchen manchmal, mit Drückermethoden Mitglieder in ihre sozialen Netzwerke zu locken.
  • Nutzer gehen im Web 2.0 arglos mit privaten Informationen um, wenn Datenschutz mehr Aufwand als zwei Mausklicks kostet.

Google kämpft aggressiv um Aufmerksamkeit

Als ein Beispiel für das Fehlverhalten der Datenkrake Google kann die Panik der Google-Reader-Nutzer nun wirklich nicht herhalten. Sicher – Chat-Kontakte aus dem Adressbuch eines Nutzers mit seinen Lesetipps zu beglücken, ist nicht unbedingt nötig. Aber angesichts des immer härter werdenden Kampfs um Aufmerksamkeit und Marktanteile im Mitmachnetz überrascht die Methode nicht.

Schließlich liegt Google hier arg hinter der Konkurrenz. Warum sollte Google nicht die Nutzer seiner kostenlosen Mail-, Chat- und RSS-Leseprogramme vernetzen? Konkurrent Yahoo hat schon vor Monaten neue, agressivere Vermarktungsstrategien erprobt. Beim Mitmach-Dienst "Yahoo Mash" kann jeder Insider mit ein paar Mausklicks Profile für jedermann einrichten.

Der einzige Umstand, den Google dafür bei seinem Reader-Dienst geändert hat ist der, dass die Software "Freunde" nun nach einem neuen, sicher ungeeigneten Mechanismus definiert. Es werden nun mehr und sicher auch mehr nicht vorgesehene Menschen darüber benachrichtigt, was ein Reader-Nutzer im Web lesenswert findet – Sado-Maso-Blogs, Nachrichten, Katzenwitze und so weiter.

Wenige Nutzer informieren sich über Datenschutz

Öffentlich waren diese Lese-Listen aber schon immer – man kann sie jetzt nur viel einfacher finden. Google weißt geradezu alle Adressbuch-Insassen darauf hin. Das ist ungeschickt – ein Datenschutzskandal sieht aber anders aus. Redakteur Stan Schroeder vom Web-2.0-Fachblog Mashable urteilt: "Wer besorgt über Datenschutz ist, sollte bei Google Reader derzeit einfach nicht das Werkzeug zum Teilen von Artikeln nutzen."

Wer sich ein wenig genauer mit der Google-Software beschäftigt, entdeckt schnell eine Methode, um seine Lesetipps nur mit ausgewählten Freunden zu teilen. Nur, das zeigt die Datenschutz-Panik: So genau informieren sich wenige Nutzer. Die detailliert beschriebene, von Google nun noch einmal im offiziellen Reader-Blog erklärte Methode konnte man immer schon nutzen – es ist nur etwas aufwendiger, detaillierte Freigaben zu erteilen, als mit einem Mausklick seine Leseliste für die ganze Welt freizugeben.

Branchen-Blogger und IT-Risikokapitalgeber Paul Kedrosky kommentiert das süffisant: "Es gibt keine Wut wie die eines Software-Nutzers, dessen Programm auf einmal so funktioniert, wie es die Dokumentation behauptet." Denn was sollte der kleine Schalter "Share" sonst tun, als Lesetipps öffentlich zu machen? Der Protest dagegen brach erst los, als diese Eigenschaft dank der Integration des Google-Mail-Adressbuchs etwas populärer wurde.

Deutsche Google-Kalender verraten Intimes

Wie fahrlässig Nutzer mit ihren Daten umgehen, kann man bei einem anderen Google-Dienst testen: Der Google-Kalender ist ein praktischer Online-Terminplaner. Man kann ausgewählte Kontakte seine Einträge anschauen lassen – vorausgesetzt sie haben ein Google-Konto. Einfacher ist die Methode, seinen Kalender öffentlich zu machen – dann kann jeder darauf zurückgreifen, dem man den passenden Link schickt, auch ohne Google-Konto. Der Nachteil dieser bequemen Methode: Öffentliche Google-Kalender sind tatsächlich für jedermann einsehbar.

Eine simple Schlagwort-Suche in den öffentlichen Google-Kalendern brachte SPIEGEL ONLINE heute vormittag Namen, Termine und zum Teil Adressen von Google-Mitgliedern zu womöglich peinlichen Einträgen wie diesen (Formulierungen leicht abgeändert und Details gestrichen, damit die Einträge nicht zurückverfolgt werden können):

  • "nach Bescherung großes Feiertags-Kiffen"
  • "Saufen (gemütlich)"
  • "Prüfungen vorbei – Zeit zum saufen"
  • "Schnapsen bei Altfried (Wein einpacken)"
  • "Kuscheln ins neue Jahr mit XY"

Außerdem kann man über die von Nutzern derart leichtfertig veröffentlichten Kalender mühelos Spätdienste, Konzertbesuche, Geschenkeinkäufe, Zahnartz-Termine und Nebenjobs als Automechaniker nachvollziehen.

Interessante Beobachtung dabei: Es gibt sogar Menschen, die sich am 31.12. "Silvester" zur Erinnerung in den Google-Kalender schreiben.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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