Zum Inhalt springen

Technik-Legende Cerf: Internet-Erfinder predigt das Weltraum-Web (Spiegel Online, 1.11.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Technik-Legende Cerf

Internet-Erfinder predigt das Weltraum-Web

Vint Cerf hat das Internetprotokoll TCP/IP mitentwickelt und sieben Jahre lang die Netzverwaltung Icann geleitet. Seine Amtszeit endet jetzt, aber Cerf hat weiter gut zu tun: Er ist Googles "Internet-Evangelist", schreibt Gedichte – und webt für die Nasa ein Internet im All.

Spiegel Online, 1.11.2007

Anzug, Weste, Einstecktuch – so trat Vint Cerf vorige Woche bei Googles Analysten-Tag vor die Experten und referierte über Mobilfunk, Lobbyarbeit und ein Internet im Weltall. Der 64-jährige, hagere Informatiker mit dem weißen Bart wird nicht nur "Gründervater des Internets" genannt, er sieht auch so aus – weise und würdig. Cerf hat vor mehr als 30 Jahren die Grundlagen-Protokolle des Internets mitgeschrieben, heute nutzt Google seine Autorität. Cerf vertritt den Konzern seit zwei Jahren als "Internet-Chef-Evangelist".

Für den Job wird Cerf ab November mehr Zeit haben. Dann tritt er nach sieben Jahren als Leiter der technischen Netzverwaltung Icann ab. Cerf hat es in seiner Amtszeit geschafft, die scharfe Kritik an der umstrittenen Organisation zu dämpfen und nebenbei das Icann-Budget enorm auszubauen: von weniger als vier Millionen Dollar 2001 auf das Zehnfache im Jahr 2008. Die Zahl der Mitarbeiter ist ähnlich stark gewachsen.

Cerf war perfekt für diese Aufgabe – ein legendärer Techniker, ein brillanter Redner und ein perfektionistischer Öffentlichkeitsarbeiter. Es sind kaum Fotos zu finden, auf denen Cerf nicht seinen "Alltags-Dreiteiler" (Cerf zu Analysten) trägt. Eine der wohl kalkulierten Ausnahmen: Auf dem Titelfoto für ein Internet-Fachmagazin reißt er 1996 in Superman-Pose sein Hemd (mit Manschettenknöpfen!) auf und entblößt ein T-Shirt mit der Aufschrift "IP on everything" (siehe auch Foto oben). Cerf wirbt für seinen damaligen Arbeitgeber, den Telekom-Riesen MCI, der damals auf das Internetprotokoll IP setzte.

Cerf hat Starqualitäten

Das Phänomen Vint Cerf erklärt Icann-Geschäftsführer Paul Twomey zu Cerfs Abschied der Nachrichtenagentur AP so: "Er hat Starqualitäten. Er kann Türen öffnen, er kann zu jedem sprechen, er kann sagen: Ich habe mit meinen Kollegen das Internet erfunden und so funktioniert es."

Und das stimmt sogar. Als Vinton Cerf zum ersten Mal Computer sah, waren die Rechenmaschinen noch groß wie Kühlschränke. Cerf studierte damals, Mitte der sechziger Jahre Mathematik an der Stanford University im kalifornischen Palo Alto. Sein Vater arbeitete als Manager bei Rocketdyne, einem Hersteller von Raketentriebwerken. Ein Freund des Vaters forschte in Stanford, der junge Cerf durfte ihn besuchen und war "sehr beeindruckt", wie er im Rahmen eines "Oral History"-Projekts berichtet.

Cerf fällt bei IBM unangenehm auf

1965 begann Cerf, als IT-Systemingenieur bei IBM zu arbeiten. Er erinnert sich an seinen ersten Tag, zu dem er mit Jackett und gelben Hemd auftauchte. Cerf war damals schon stolz auf seinen Kleidungsstil – das Geheimnis seiner Dreiteiler erklärt er im Autobiografie-Interview so: Er ging irgendwann im Jackett und mit Brieftasche zur Schule: "Ich wollte anders aussehen, beachtet werden. Das war ein sehr effektiver Weg." An seinem ersten Tag bei IBM fiel er unangenehm auf. IBM-Mitarbeiter tragen weiße Hemden, sagte ihm ein Vorgesetzter.

Cerf blieb zwei Jahre beim IBM-Konzern und seine Begeisterung für Rechner wuchs. Also studiert er 1967 wieder – Informatik an der University of California in Los Angeles, macht seinen Master, promoviert 1972 in Informatik. Dann arbeitet Cerf an der Stanford-University. Eine glückliche Fügung: Zu dieser Zeit läuft ein Forschungsprojekt der vom Pentagon finanzierten Advanced Research Projects Agency (ARPA). Ziel: ein System zu entwickeln, über das Computer an verschiedenen Universitäten Daten austauschen können.

An diesem Problem arbeitet der Informatiker Bob Kahn. Er leitet dieses Forschungsprojekt – und verfügt damit über das damals größte Informatik-Forschungsbudget. Cerf stößt 1973 dazu, beide stellen 1974 ihr Konzept vor, das sogenannte "Transmission Control Protocol (TCP)". Es regelt, wie Rechner Nachrichten in Datenpakte stückeln, adressieren und an die korrekte Adresse weiterleiten.

4,6 Milliarden IP-Adressen sind zu wenig

Dieses Konzept ist die Grundlage des heute noch im Internet verwendeten TCP/IP-Netzwerkprotokolls. Cerf und Kahn erinnerten sich Anfang Oktober zusammen in den "National Archives" in Washington an die Entwicklung. Im Publikum saß die Analystin Cynthia Brumfield, die von einer erregten Diskussion zwischen Cerf und Kahn berichtet. Die beiden hätten debattiert, ob es ein Fehler gewesen ist, damals die Menge möglicher IP-Adressen durch ein 32-Bit-System auf nur 4,6 Milliarden zu begrenzen. Kahn nennt das einen Fehler, Cerf hält das für ein "Experiment" angemessen – die heutigen Ausmaße des Internets hat man damals nicht geahnt.

Allerdings warnt Cerf selbst im Gespräch mit BBC Online, dass die IP-Adressen 2010 knapp werden dürften. Sollten die Internet-Provider bis dahin nicht die längst einsatzbereite Version 6 des Internetprotokolls nutzen, könnte ein Risiko bestehen "nicht online zu gehen". Cerf zur BBC: "Beim gegenwärtigen Verbrauch von IPv4-Adressnummern dürften diese 2010 oder 2011 aufgebraucht sein."

Um solche Probleme kümmert sich Cerf als Googles Chef-Prediger. Er mahnt, er knüpft Kontakte, er hält Reden. Und er treibt ein paar konkrete Projekte voran, zum Beispiel das Weltall-Web, mit dem die Nasa irgendwann Steuerbefehle an Maschinen im All versenden will. Cerf prophezeite beim Google-Analysten-Treffen (siehe Video unten): "Ich denke, wir werden in den nächsten 20, 30, 40 Jahren eine interplanetare Daten-Hauptleitung haben."

{youtube}pyJ_wQah3U0{/youtube}

Abgesehen davon hat sich Cerf für seine Zeit nach Icann noch ein paar private Projekte vorgenommen: Fünf Bücher wolle er fertig schreiben, sagte Cerf der Nachrichtenagentur AP. Eines davon ist eine Geschichte des Internets: "Ich zögere, es die definitive Geschichte zu nennen, aber ich werde mich sehr bemühen, die ersten zehn Jahre zu beschreiben."

Außerdem in Planung: eine Biographie seiner Frau, ein Band mit seinen Gedichten, eine Anekdotensammlung und ein Sachbuch über Beziehungen. Cerf sucht noch Verlage.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert