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Technikärgernis: Der Staubbeutel-Wahnsinn (Spiegel Online, 11.6.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Technikärgernis

Der Staubbeutel-Wahnsinn

Wenn Vielfalt zum Horror wird: Wer einen neuen Staubsauger-Beutel braucht, hat ein Problem – es gibt 1120 verschiedene Tüten für 42.000 verschiedene Geräte. Die Wahrscheinlichkeit, zufällig den richtigen Beutel zu kaufen, liegt unter einem Promille.

Spiegel Online, 11.6.2008

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Dirt Devil Derby ist ein wunderbar eingängiger Name für einen
Staubsauger. Der half mir im Drogeriemarkt vor dem Regal mit den
Staubsaugerbeuteln aber wenig.

Derby? Da gab es nur DD80-, Z107- und Y98-Beutel, die alle in
irgendwelche Dirt Devils passen sollten. Derby stand auf keinem der
Kartons. Ich fragte die Verkäuferin, sie drückte mir die Y98er-Packung
in die Hand – "die passen schon". Von wegen! Zwar passten die irgendwie
in den Derby – nur wollte der Staubsauger sich mit den neuen Beuteln
partout nicht schließen lassen.


Eine Google-Suche offenbarte das ganze Ausmaß des
Staubbeutel-Durcheinanders: Ein gutes Dutzend
Staubsaugerbeutel-Anzeigen ("Staubbeutel für über 20.000
Staubsaugertypen!" – "Staubfiltertüten für über 14.000 Staubsauger!")
buhlen um Aufmerksamkeit – es scheint da draußen viele Menschen zu
geben, die es wie ich nicht hinkriegen, im Drogeriemarkt zwischen den
DD80- und Z107ern den passenden Beutel für ihren Staubsauger zu finden.

Januar ist Staubbeutel-Saison – wegen der Tannennadeln

Genauer gesagt: Es müssen mindestens ein paar hunderttausend
Staubsaugerbesitzer im Monat sein, die verzweifelt im Netz nach einem
passenden Beutel suchen, weil die aus dem Drogeriemarkt nicht passen.
Markus Porten, Geschäftsführer eines der ältesten Staubbeutel-Webshops
Staubbeutel.de
– erzählt, dass seine Staubbeutel-Datenbank im Durchschnitt 340.000
Suchanfragen monatlich abarbeitet. Porten: "In Hochzeiten sind es bis
zu 550.000 Anfragen – im Januar, wegen der Tannennadeln."

Wie groß die Staubbeutel-Vielfalt ist, verdeutlicht ein Blick in
Portens Beutellager: 700 Quadratmeter Grundfläche, 144 Palettenplätze,
80 Meter Regalflächen, weil die meisten Staubbeutel nicht in
Palettenmengen am Lager sind. Vor zehn Jahren programmierte Porten –
eigentlich Inhaber eines Haushaltswarenladens in Hermeskeil bei Trier –
die erste Staubbeutel-Suchmaschine. Auf die Idee brachten ihn seine
Kunden im Ladengeschäft: "Täglich kamen Kunden, um Staubbeutel zu
kaufen und haben vergessen, die Typenbezeichnung von der Rückseite des
Staubsaugers mitzubringen."

1120 Beuteltypen für 42.000 Staubsaugermodelle

Dann kamen die ersten Bestellungen übers Web und Porten wurde zum
Staubbeutel-Spezialisten: "Wir haben systematisch alle Altbestände
gekauft, in unsere Suchmaschine eingepflegt und somit ein nahezu
vollständiges Lager aufgebaut. Im Prinzip können wir Staubbeutel für
Staubsauger aus den sechziger Jahren genauso liefern, wie Staubbeutel
von Staubsaugern, die erst im Oktober von Tchibo verkauft werden."
Neben Privatleuten kaufen auch Hotelketten, Ferienparks,
Kreuzfahrtschiffe und Fregatten bei Porten Staubbeutel für ihre
exotischen Sauger.

Der Beutelhändler hat ständig 500.000 bis 800.000 Staubbeutel auf
Lager – 1120 verschiedene Staubbeutel-Modelle, die in rund 42.000
Staubsauger passen.

Ein Staubbeuteltyp kommt also rein rechnerisch auf 38 Staubsaugermodelle.

Immerhin!

Y98er passen in den Swiffy M 1550 bis M 1554

Statistik hilft aber wenig, wenn man den falschen Beutel hat, die
Läden geschlossen sind, nachdem man das bemerkt hat und die Wohnung
folglich fegen muss.

Die Staubbeutel-Datenbank verriet mir an solch einem Samstagabend:
Die im Drogeriemarkt empfohlenen und gekauften Y98er-Beutel waren
definitiv die falschen für meinen Dirt Devil – sie passen nur in den
"Picco Bello M 1440 bis M 1446", aber auch in den "Swiffy M 1550 bis M
1554" und ein paar andere Dirt-Devil-Modelle. Nur nicht in den Derby.
Der braucht Y93er. Alles klar?

Mir nicht. Und ein paar hunderttausend anderen Staubsaugerbesitzern
auch nicht. Zum Beispiel Herrn Marzinowsky aus Recklinghausen. Einem
Lokalreporter der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" hat der 67jährige
Rentner in der großartigen Rubrik "Unterwegs" erzählt, er komme gerade
aus einem Elektroladen: "Dort sollte ich Staubsaugerbeutel einkaufen.
Aber meine Frau hat mir wohl die falsche Typennummer gegeben." Jetzt
erst mal Mittagessen ("Sauerkraut, das kocht meine Frau immer besonders
lecker"), dann nachmittags der nächste Versuch beim Elektrohändler –
"hoffentlich mit der richtigen Nummer für die Staubbeutel".

DIN scheitert mit Staubbeutel-Initiative

Muss das sein? Nein, fand das Deutsche Institut für Normung (DIN)
immer schon. Vor zehn Jahren erzählte der damalige Direktor Helmut
Reihlen der Deutschen Presse-Agentur bereits, man arbeite an einer Norm
für Staubsaugerbeutel, nach Einführung könnten von den gut 1000
angebotenen Typen womöglich nur noch zehn Beutelarten übrig bleiben.

Guter Plan. Doch die Sauger- und Beutelbauer verhinderten die Norm.
Das DIN hat zwar schon die "Büschelauszugskraftprüfung" (DIN 20126 für
die Bürstenherstellung) und "nicht-haftende Verschmutzung" (DIN 77400
zur Reinigung von Schulen) genormt, beim Staubbeutel floppte die
DIN-Initiative aber.

Die Geschäftsführerin des DIN-Verbraucherrats Karin Both erinnert
sich an den Prozess: Der Verbraucherrat hatte einen Normungsantrag mit
dem schönen Titel "Staubsaugerbeutel, Maße und Bezeichnungen" gestellt.
Ziel war es, die Typenvielfalt einzuschränken und eine einheitliche
Bezeichnung der unterschiedlichen Typen festzuschreiben. Die Hersteller
diskutierten den Antrag im Komitee, das sich mit Gebrauchseigenschaften
von Staubsaugern beschäftigt – und lehnten ihn ab.

Hersteller lehnen DIN-Normung ab

Both: "Zwar zeigten diese ein gewisses Verständnis für das Anliegen
der Verbraucherseite und es wurde uns versichert, dass man bereits
versuche, die Vielfalt firmenintern einzuschränken. Eine
firmenübergreifende Lösung aber wurde abgelehnt." Die Argumente:
Genormte Beutel seien ein Eingriff in die Konstruktion des Staubsaugers
selbst, dann müssten auch Anschlussmaße vereinheitlicht werden.
Außerdem müsste man dann auch die anderen Filter im Gerät, wie zum
Beispiel den Motorschutzfilter mitnormen, weil die in
Staubbeutelpackungen mitverkauft werden.

Fragt man die Hersteller, warum es ein solches Wirrwarr bei einem so
simplen Gebrauchsgegenstand wie Staubbeuteln gibt (von wegen technisch
komplex – der erste Staubbeutel soll 1956 eine Papiertüte in einem
Stoffbeutel gewesen sein), verweisen sie darauf, dass bei den aktuellen
eigenen Staubsaugern doch gar nicht so viele unterschiedliche
Staubbeutel-Typen im Einsatz seien. Schon klar – die anderen sind
schuld.

Miele-Sprecherin Reinhild Portmann: "Für unsere aktuellen
Staubsauger gibt es derzeit lediglich drei Staubbeutel-Typen: für
Bodenstaubsauger den Typ F/J/N mit einem nutzbaren Staubbeutelvolumen
von 3,5 Litern Inhalt sowie den Typ G/N für Bodenstaubsauger mit einem
nutzbaren Staubbeutelvolumen von 4,5 Liter; für aktuelle
Handstaubsauger ist der Typ K/K verfügbar."

Und die ganzen anderen Miele-Beutel? Firmen-Sprecherin Portmann:
"Alle anderen Staubbeuteltypen (L/L, B, D, E, H) beziehen sich auf
ältere Staubsaugermodelle, die wir nicht in unserem aktuellen Angebot
haben."

Jeder Hersteller will seinen eigenen Superbeutel bauen

Und warum hat jeder Hersteller seine eigene Superbeutel-Modellreihe?
Das erklärt Miele so: Gerätegröße und die Bauform seien ein
entscheidendes Kriterium für das Aussehen von Staubbeuteln. Und deshalb
sei "eine DIN-Norm für Staubbeutel eher unrealistisch, denn die Geräte
der verschiedenen Hersteller haben alle unterschiedliche Formen", so
Miele-Sprecherin Portmann.

Menschen wie Jürgen Marzinowsky und ich werden im Notfall noch viele
Jahre lang durch Drogerie- und Elektroläden irren. Und vielleicht steht
da einmal ein Experte wie Staubbeutel-Händler Markus Porten. Der hilft
schon mal "verzweifelten Kunden im Media Markt bei der Suche". Nach
zehn Jahren Beutelhandel glaubt er: "Einen Standard wird es meiner
Meinung nach nie geben."

Vielleicht ist deshalb der Brite James Dyson mit seinem beutellosen Sauger zum Dollar-Milliardär geworden.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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