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Technikärgernis Nummernblock: Wer viel rechnet, ruft Wildfremde an (Spiegel Online, 15.8.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Technikärgernis Nummernblock

Wer viel rechnet, ruft Wildfremde an

Taschenrechner, Telefon, Tastatur, PIN-Pad – die Zahlen auf den Nummerntasten laufen immer anders, mal ab- mal aufsteigend. Folge: Wer oft Zahlen in den Computer tippt, ruft systematisch die falschen Leute an.

Spiegel Online, 15.8.2008

Beim zweiten Anruf binnen fünf Minuten wird es peinlich. Schon
wieder verwählt. Schon wieder dieselbe falsche Nummer gewählt. Die
inzwischen konsternierte wildfremde Dame sagt nur noch: "Bitte?" Da
hilft nur die Flucht nach vorn: "Da ist wirklich nicht die
Staatsbibliothek?"


Aufgelegt. Nein, offensichtlich nicht die Bibliothek. Die arme alte
Dame habe ich in wenigen Wochen oft angerufen, als ich an der
Universität tausende von Ziffernfolgen in ein Statistikprogramm tippte.

Warum es damals immer wieder gerade diese alte Dame erwischt hat,
erklären SPIEGEL-ONLINE-Leser, die täglich viele Zahlen in Datenbanken
tippen und ähnlich planmäßig wie ich damals die immer gleichen falschen
Nummern ins Tastentelefon tippen. Der Grund: Die Ziffern auf dem
Nummernblock der Computertastatur sind anders angeordnet als die auf
dem Telefon. Die Fehlverbindungen sind der Preis einer Konditionierung.

Bei beiden Layouts sind
die Ziffern in vier Reihen mit drei Spalten angeordnet. Nur beginnt auf
der Computer-Tastatur die oberste Ziffernreihe mit 7 und endet mit 9,
die unterste fängt mit 1 an und hört mit 3 auf. Auf Telefontastaturen
laufen die Ziffern hingegen von 1 (links oben) bis 9 (rechts unten).
Die Folge: Wer viele Zahlen in Rechner tippt und telefoniert, muss
ständig umdenken.

1 bis 3 oder 7 bis 9

Zum Beispiel Elektroingenieur Ingo Köhler, der für
Energieunternehmen Netzverträglichkeitsprüfungen und Netzberechnungen
macht und klagt: "Wenn ich telefonieren muss, muss ich mich immer stark
konzentrieren, die richtigen Zahlen auf dem Telefon zu tippen." Köhler
fragt sich wie viele Zahlenarbeiter: "Mir konnte bisher niemand
erklären, weshalb die Zahlen auf der 10er-Tastatur eines Computers
anders angeordnet werden."

Die Tastatur-Hersteller Logitech und Cherry erklären die Anordnung
der Ziffern auf Anfrage so: Da habe IBM in den Anfangstagen des PC bei
der Gestaltung des ersten Tastatur-Nummernblocks einfach die alten
Rechenmaschinen als Vorbild genommen. Günter Vogl, Marketingchef der
deutschen Tastatur-Firma Cherry: "Das ist also historisch bedingt.
Damals hatten Telefone noch Wählscheiben. Warum bei den Tastentelefonen
später eine andere Ziffernreihenfolge gewählt wurde, entzieht sich
unserer Kenntnis."

Schuld sind Wählscheibe und Rechenmaschine

Kein Wunder – die Ursache für das Ziffernchaos liegt einige
Jahrzehnte zurück, in einer Zeit, bevor es überhaupt Heimcomputer gab.
Die Experten beim Deutschen Institut für Normung (DIN) versuchen sich
fast ebenso lange an Standards für die Ziffernanordnung auf Tastaturen.
DIN-Sprecher Peter Anthony erklärt: "Ursache für die Reihenfolge der
Belegung der Telefontasten war die damalige Technologie beim Wählen der
einzelnen Ziffern durch die Drehwählscheibe am Telefon."

Die Wählscheibe ist also schuld. Alte Telefone wählten Nummern über
das sogenannte Impulsverfahren mit mechanischen Impulsen. Die
Wählscheibe funktionierte als Aufzugsmechanismus, ein wenig wie der bei
alten Weckern. Aufziehen, loslassen – und wenn die Wählscheibe
zurückrattert, aktivierte sie beim Ablaufen Kontakte so oft, wie die
jeweilige Ziffer auf der Wählscheibe es anzeigt. Also zum Beispiel: Für
die 1 wird der Kontakt einmal geschlossen, für die 2 zweimal und so
weiter. Deshalb beginnen auf Wählscheiben die Ziffern bei 1 (1 Kontakt)
und enden bei 0 (10 Kontakte), wofür man die Scheibe bis zum Anschlag
aufziehen musste.

Als dann neue Wahlverfahren kamen, die mit elektronischen
Schaltungen und Zifferntasten arbeiteten, übernahmen die Hersteller
einfach die alte Ziffernfolge der Wählscheiben von 1 bis 0, obwohl es
dafür keine technische Notwendigkeit mehr gab. Die ersten dieser
Tastentelefone gab in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten zu
kaufen, als dort das "Touch Tone"-Wahlverfahren eingeführt wurde.

Diese willkürlich von der mechanischen Wählscheibe abgeleitete
Belegung der Telefontasten hat sich so weit verbreitet, dass die
Internationale Fernmeldeunion (ITU) sie in den achtziger Jahren in
einer Richtlinie zur "Anordnung von Ziffern, Buchstaben und Symbolen
auf Telefonen" (die gibt es wirklich!) als Empfehlung festhielt.

Computer-Opa Rechenmaschine wirkt nach

In den 1950er Jahren, als die Welt noch mit Drehscheiben
Telefonnummern wählte (wenn überhaupt), verabschiedete das Deutsche
Institut für Normung (DIN) die erste Rechenmaschinen-Norm. Als Belegung
für die Zifferntasten einigten sich die Industrievertreter damals auf
die Abfolge von 7 bis 9 in der ersten oberen Reihe des numerischen
Blocks.

Da Telefone damals keine Tasten hatten, erkannte niemand den
Widerspruch in der Bedienlogik beider Systeme. DIN-Sprecher Anthony:
"Erst als auch die mechanischen Rechenmaschinen durch elektrische und
elektronische ersetzt wurden, erkannte man die Unterschiede beider
Tastaturen."

Fünf Jahrzehnte Streit über Zifferntasten

Da war es allerdings schon zu spät für einen übergreifenden
Standard. Telefon- und Rechenmaschinenfirmen hatten kein Interesse
daran, ihre Geräte plötzlich umzustellen. Und da eine Lösung nur so
aussehen konnte, dass eine der beiden Fraktionen auf ihren
Ziffernstandard verzichtete, kam es einfach nicht dazu.

DIN-Sprecher Anthony: "Die Hersteller von Rechenmaschinen
argumentierten, dass sie soundso viele tausend Geräte im Feld hätten,
das gleiche Argument brachten auch die Telefongesellschaften vor."
Hinzu käme der Aufwand für die Umschulung der professionellen Anwender,
die die Tastatur "blind", sicher und schnell bedienen müssten.

Und so existieren die Wählscheiben- und die Rechenmaschinen-Doktrin
bis heute: An der Rechenmaschine haben sich die Entwickler der
Taschenrechner und der Computertastatur orientiert. Die
Automatenindustrie nahm sich bei den Feldern zur PIN-Eingabe an
Geldautomaten hingegen die Telefontastatur zum Vorbild.

"Menschen sind eben Gewohnheitstiere"

Der letzte Versuch, einen internationalen Standard für Ziffernblöcke
zu finden, ist vor 18 Jahren gescheitert. DIN-Sprecher Anthony: "Erfolg
kann so eine Vereinheitlichung nur haben, wenn sich die interessierten
Kreise an einem Normungsprojekt aktiv beteiligen."

Dazu wird es wohl kaum kommen. Der DIN-Kompromiss sieht derzeit so
aus: Laut DIN-Standards darf der Ziffernblock auf Tastaturen auch wie
die Tastenfolge beim Telefon gestaltet sein (so die DIN 2137-2). Gebaut
werden solche Tastaturen aber nicht. Cherry-Manager Günter Vogl erklärt
das so: "Es gibt viele großartige Studien und Entwicklungen
effektiverer Layouts. Die sind aber alle trotz überwältigender
Argumente in der Praxis jämmerlich gescheitert. Menschen sind eben
Gewohnheitstiere." 95 Prozent der Kunden wollen Standardtastaturen.

Und da nur eine Minderheit Zahlenkolonnen tippt, telefoniert und
sich regelmäßig verwählt, wird das auch noch einige Zeit so bleiben. 

Versteckte Einschaltknöpfe, verwirrende Anleitungen, verrückte
Automaten – in der Reihe "Fehlfunktion" stellen wir in loser Folge
Technikärgernisse vor, die Millionen nerven. Schicken Sie uns Ihre
Anregungen mit einer kurzen Begründung. Am besten per

E-Mail.


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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