Technikärgernis Rückentext: Darum torkelt der Text auf DVD- und Buchrücken (Spiegel Online, 31.7.08)
Technikärgernis Rückentext
Darum torkelt der Text auf DVD- und Buchrücken
Mal von unten, mal von oben: Bei jedem Roman und jeder DVD läuft der Titel auf dem Rücken anders. Es gibt zwar Standards – aber niemand hält sich dran. Deshalb müssen Buchkäufer weiter die Köpfe vorm Regal hin- und herneigen – bis sie zusammenstoßen.
Spiegel Online, 31.7.2008
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Wieder mal habe ich jemanden in der Buchhandlung umgerannt, diesmal
vorm Regal mit den Reiseführern. Aber ich hatte diesmal nach ein paar
Minuten betretenen Schweigens und Weiterstöberns nicht nur eine
Entschuldigung, sondern die Erklärung: Wer hier auf den Buchrücken die
Titel lesen will, muss ständig den Kopf mal nach links, mal nach rechts
neigen – je nachdem, welches Buch da steht. Die Schrift läuft auf jedem
Buchrücken anders, mal von unten nach oben (Kopf nach links), mal
andersrum (Kopf nach rechts).
Wie soll man da noch auf etwas anderes (Menschen, Füße, Hindernisse) achten?
Ein kleines Ärgernis. Aber umso größer ist das Rätsel, warum nach
ein paar Jahrhunderten Buchdruck ausgerechnet in Deutschland kein
Beschriftungsstandard existiert. Oder steckt doch ein System hinter dem
Beschriftungschaos auf Buch- und DVD-Rücken? Darüber diskutieren in
Web-Foren immer wieder verdutzte Buchkäufer. Zum Beispiel auf einer
Seite mit dem schönen Namen Fragenohneantwort. Die Klagen dort:
- "Es ist ja noch komplizierter! Bei dicken Wältzern wird der Titel
auch gerne mal horizontal auf den Rücken gedrückt. Beim Regal-Scannen
pendelt der Kopf dann gezwungenermaßen nach rechts, dann links." - "Ich habe nicht direkt eine Antwort, aber mir ist aufgefallen, dass
es einen Unterschied zwischen deutschen und englischen Büchern gibt." - "Bei Büchern, die im Regal stehen, ist unbedingt diejenige
Anordnung am funktionalsten, die es uns ermöglicht, die Buchtitel in
Übereinstimmung mit unseren normalen Lesegewohnheiten aufzunehmen, das
heißt von links nach rechts und zeilenweise von oben nach unten."
Derart detaillierten
Ausführungen zur Theorie des optimalen Buchrückens klingen merkwürdig –
bis man selbst anfängt, Buchrücken zu untersuchen. Und das ist
unvermeidlich, wenn einem das Chaos einmal aufgefallen ist –
Buchrücken-Pedanterie. Ich suche seit Wochen das System hinter diesem
Durcheinander, doch es gibt schlicht keines.
- Angeblich laufen in Deutschland die meisten Titel auf Buchrücken
von unten nach oben (Kopf nach links). Die Regel ist das aber nicht:
Bei Reclam-Bändchen ist das zum Beispiel konsequent anders
(Rückenschrift von oben nach unten), bei vielen Verlagen gibt es
Ausreißer. - Völlig verwirrend ist die Beschriftung von Kunstbänden: Hier läuft
der Titel auf dem Buchrücken häufig im angloamerikanischen Stil von
oben – aber auch hier gibt es viele Ausnahmen – zum Beispiel beim
Kunstbuchverlag Hirmer.
Das ganze Durcheinander kommentiert Verleger Rolf Nüthen vom
Börsenverein des Deutschen Buchhandels: "Es gibt in Deutschland keine
Norm für die Beschriftung von Buchrücken, die Schrift läuft in vielen
Fällen von unten nach oben; eine Erklärung dafür kenne ich nicht."
"Weltanschauliche" Debatte über Buchrückennorm
Weit mehr Gedanken zu dem Thema haben sich die Experten des Deutschen
Instituts für Normung (DIN) gemacht – sie arbeiten sich seit etwa 50
Jahren an einer Buchrückennorm ab. Das erste Ergebnis erschien im Juni
1959 – ohne bindenden Standard. In jahrelangen Debatten über die Norm
DIN 1429 hatten sich die betroffenen Verlage offenbar nicht einigen
könne, wie die Schrift auf dem Buchrücken nun laufen soll. In den
Erläuterungen der Norm schreiben die Verfasser:
"Die Auseinandersetzungen
darüber haben geradezu weltanschauliche Formen angenommen. Auch der
Ausschuss hat sich bei der Bearbeitung der Norm eingehend mit dieser
Frage beschäftigt. Für beide Arten werden gute Gründe angegeben."
Der Ausschuss kapitulierte. Statt eines Standards gab man nur eine
Empfehlung heraus, und zwar die, "den Rückentitel von unten nach oben
laufen zu lassen". 20 Jahre später überlegte das Institut es sich
anders und empfahl nun in einer überarbeiteten Norm, die Schrift auf
dem schmalen Buchrücken "von oben nach unten" laufen zu lassen.
Begründung: Das sei so "international, besonders im angloamerikanischen
Sprachraum vorherrschend".
DIN versucht 50 Jahre lang, Buchrücken zu normieren
Einen weltweiten Standardisierungsversuch gab es dann noch: Das
internationale Normungsinstitut ISO veröffentlichte im Dezember 1985
eine Buchrücken-Norm
(6357). In der Einleitung steht das Offensichtliche: "Bücher und
ähnliche Publikationen, die in Regalen eingestellt oder abgelegt
werden, sind einfacher zu finden, wenn die Beschriftung der Rücken
standardisiert ist." Auch die ISO-Vereinheitlicher empfehlen, dass die
Schrift auf dem Buchrücken von oben nach unten läuft.
An diesen Grundsatz hält sich allerdings auch 23 Jahre später kaum
ein Verlag. Das DIN hat inzwischen aufgegeben – die letzte Neufassung
der Buchrückennorm wurde 2000 zurückgezogen. Seitdem gab es keinen
neuen Vereinheitlichungsversuch.
DVDs-Rücken chaotischer als die Buchbeschriftung
Bei DVDs ist das Rückenchaos genauso groß, wie SPIEGEL-ONLINE-Leser
Fabian Pingel beklagt: "Will man ein ordentliches Regal haben, bei dem
alle Beschriftungen in die gleiche Richtung zeigen, muss man beim
Rausnehmen die Hälfte der DVDs erst einmal herundrehen, um sich die
Beschreibung auf der Rückseite durchzulesen."
Der Text auf dem DVD-Rücken läuft nicht nur von Filmstudio zu
Filmstudio in verschiedene Richtungen – er wechselt zum Beispiel auch
bei verschiedenen DVDs des Studios MGM, mal von unten nach oben ("Der
Partyschreck"), mal andersrum ("Lord of War"). Die verantwortliche
Marketing-Managerin Anne Leonhardi erklärt das ganz einfach: "Es gibt
keinen Standard zur Beschriftung der DVD-Rücken bei 20th Century Fox
Home Entertainment."
Daran hat einfach noch niemand gedacht.