Technikärgernis Schaltauge: Dieses Metallplättchen legt Fahrräder still (2.6.2008)
Technikärgernis Schaltauge
Dieses Metallplättchen legt Fahrräder still
Kleines Verschleißteil, große Wirkung: Reißt am Fahrrad das Schaltauge, wartet man schon mal Wochen auf Ersatz. Es gibt ein paar Hundert Varianten des Bauteils, manche sind lange nicht mehr lieferbar, andere nur nach vielen Wochen. Alternativen: schweißen, flexen, fräsen.
Spiegel Online, 2.6.2008
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Der Fahrradärger begann ganz unspektakulär, auf einem asphaltierten
Radweg in Hamburg ohne Schlamm, ohne Steigung, ohne Äste. Das Rad
rollte ruhig dahin, plötzlich hakte die Schaltung. Knack. Kein
Widerstand mehr in den Pedalen, irgendwas schleifte hinter dem Rad her.
Kette gerissen? Nein. Ein Metallstück, groß wie ein Snickers-Riegel,
war sauber in der Mitte durchtrennt, das Schaltwerk abgebrochen. Der
gerissene Metallriegel, der es am Rahmen fixiert hat, heißt Schaltauge.
Dieses unscheinbare Metallstück treibt Radfahrer regelmäßig in den
Wahnsinn.
Denn es gibt für fast jeden Rahmen ein spezielles Schaltauge. Jedes
hat eine leicht andere Form, ordnet die Gewinde ein wenig anders an.
Die Folge: Solange man nicht das eine, einzig passende Ersatzschaltauge
unter Hunderten von anderen als Ersatzteil bekommt, ist ein Fahrrad
komplett unbrauchbar. Wegen eines Metallplättchens.
Auf mein Ersatzschaltauge warte ich inzwischen zwei Wochen. Bei
Online-Shops fand sich kein Ersatz für mein Winora-Rad (süddeutsches
Rad in Hamburg = schlecht!), bei Ebay auch nicht, bei Winoras
Ersatzteiltochterfirma Wiener Bike Parts darf ich nicht bestellen –
"nur für Fachhändler". Das Rad steht also in einer Werkstatt und wartet
auf das Ersatzteil. Unterwegs soll es sein – aus Schweinfurt. Das
dauert offenbar.
Die Staubsaugerbeutel des Sports
Zwei Wochen! Der einzige Trost in dieser Wartezeit sind die Horrorgeschichten über Schaltaugendebakel in
Mountainbike– und
Rennrad-Foren. Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein. So zum Beispiel:
- "Ich versuche schon seit fast zwei Monaten in Braunschweig ein Schaltauge für mein MTB zu bekommen."
- "Ich suche auch schon länger ein neues Schaltauge für einen acht
bis zehn Jahre alten Gary Fischer Z2 Y-Rahmen. Werd gleich mal ein Bild
machen. Vielleicht kann jemand helfen." - "Alternativ kann man selber was dranschweißen oder ein neues
Ausfallende einlöten lassen (mit Lackierarbeit verbunden) – da muss der
Rahmen schon was wert sein". - "Einfach dickes Blech ranschweißen und M10x1 reinschneiden – Gewindeschneider sind ja nicht so teuer."
Schaltaugen scheinen die Staubsaugerbeutel des Sports zu sein. Die
Modellvielfalt ist unüberschaubar. In der schönen Übersicht
"Schaltaugen 1999 bis 2006" ( pdf)
zählt der Hamburger Radbauer Stevens zum Beispiel für manche Radmodelle
innerhalb von fünf Jahren drei verschiedene Schaltaugentypennummern
auf. Ein netter Hinweis am Rande: "Im Zweifelsfall überprüfen Sie bitte
die Form des Schaltauges an Hand der Fotos auf der separaten Seite."
Warum die Schaltaugen so variieren? Stevens-Manager Volker Dohrmann:
"Je nach Rahmen-Produzent und Konstruktion ist oft ein eigenes
Schaltauge im Einsatz." Wenn die Firma also einen anderen Rahmen für
ein Modell verwendet, gibt es neue Schaltaugen. Man gebe sich aber
Mühe, die Vielfalt zu reduzieren und die Ersatzteile für mindestens
zehn Jahre lang lieferbar zu halten. Dohrmann: "Es ist richtig, dass
das Schaltauge ein oft benötigtes Ersatzteil ist und die Beschaffung je
nach Fahrradhersteller eine rasche oder langwierig-mühselige
Angelegenheit sein kann."
Gute Idee, miserable Umsetzung
Das Aberwitzige daran: Nur vergleichsweise teure Fahrräder haben
überhaupt auswechselbare Schaltaugen. Der Ansatz ist durchaus
kundenfreundlich: Wer einen teuren Rahmen hat, will den wohl kaum nach
ein paar Jahren wegwerfen, weil er verzogen ist. Ohne Schaltauge könnte
das passieren. Zum Beispiel, wenn irgendetwas (Äste, Mauern, der Boden
beim Sturz) gegen das Schaltwerk schlägt und das verbogene Schaltwerk
in die Speichen gerät. Das Schaltauge wirkt dann als Sollbruchstelle.
Kundenfreundlich wäre das, wenn man tatsächlich Ersatz für dieses
Plättchen erhielte und darauf nicht ein paar Wochen warten müsste. Das
Schaltaugen-Kuddelmuddel erschwert das natürlich ein wenig – welcher
Händler wird schon alle Modelle auf Lager haben? Man weiß ja nicht
einmal, wie viele es überhaupt gibt.
Das weiß nicht einmal Michael Schuh, obwohl der Fahrradhändler einen auf Schaltaugen spezialisierten
Webshop
betreibt. Wie viele Ausführungen dieses Metallplättchens es gibt?
Schuh: "Hunderte bestimmt, kann ich nicht genau beziffern." Er hat in
seiner Werkstatt über die Jahre eine Sammlung angelegt. Immer wenn er
für eine Reparatur ein neues Schaltauge besorgte, kaufte er noch eins
extra fürs Lager und fotografierte es.
Mech hanger, Forcellino, Schaltauge
Die britische Schrauberwerkstatt
Betd
hat daraus sogar ein internationales Geschäft gemacht: Das Unternehmen
baut selbst Schaltaugen nach. Gut 160 Modelle sind im Angebot, die
Preise in Dollar, Euro und Pfund ausgezeichnet – offenbar kaufen hier
Radler aus der halben Welt Schaltaugen nach. Die Produktbeschreibung
klingt entsprechend: "Mech hanger, derailleur hanger, Forcellino,
Schaltauge – call them what you want."
Aber warum gibt es davon so viele? Technische Gründe hat das wohl
kaum, urteilt Schaltaugenhändler Michael Schuh. Ein paar
unterschiedliche Basisausführungen seien technisch bedingt, bei einem
Rennrad etwa seien Abstand und Höhe des Schaltwerks zur Hinterachse
anders als bei einem Mountainbike. Schuh: "Solche Unterschiede geben
die Hersteller von Schaltwerken vor, da müssen die Rahmenbauer die
Schaltaugen anpassen. Aber diese echten technischen Unterschiede
erklären vielleicht fünf verschiedene Modelle von Schaltaugen."
Taiwan entscheidet, wie Schaltaugen aussehen
Und die anderen gefühlten 10.000 Modelle? Es gibt keinen
internationalen Schaltaugenstandard – das erklärt zumindest die
Unterschiede zwischen den verschiedenen Radbauern. Allerdings wechseln
bei Firmen wie Stevens Schaltaugentypen ja nicht nur zwischen den
einzelnen Modellen, sondern sogar zwischen Herstellungsjahren. Die
plausibelste Erklärung dafür hat Radaugenhändler Schuh: "Rahmen werden
in Taiwan gefertigt, nach Vorgaben zum Preis und zum Aussehen und so
weiter. Wenn plötzlich ein Zulieferer einen außergewöhnlich guten,
günstigen Rahmen anbietet, greifen Hersteller natürlich zu. Wie
Schaltaugen auszusehen haben, ist da nachrangig."
Ähnlich erklärt Gunnar Fehlau vom Pressedienst Fahrrad – einer Art Interessenverband der Fahrradindustrie – die Vielfalt.
Die Zulieferer würden oft für verschiedene Marken Rahmen bauen,
dabei entweder die Schaltaugen angleichen oder "aus Patent- und
Geschmacksmusterschutzgründen" das Gegenteil tun: "Durch Veränderung
für mehr Unterscheidbarkeit sorgen." Radexperte Fehlau: "Beides
passiert nicht selten, ohne dass die Marken darüber im Vorfeld
informiert werden."
Angesichts dieses Durcheinanders klappt die Versorgung mit
Ersatzteilen meistens sogar recht gut, muss sogar Schaltaugenhändler
Schuh zugeben. Probleme gebe es vor allem "bei exotischen, auch teuren
Rahmen, bei älteren Modellen und auch mal, wenn man das Ersatzteil bei
einer Werkstatt in einer Gegend kaufen will, wo der Hersteller nicht so
stark vertreten ist".
So wie bei meinem süddeutschen Winora-Fahrrad in Hamburg. Wenn diese
Woche kein Ersatz-Schaltauge kommt, kaufe ich mir ein Hollandrad. Ohne
Schaltauge.