Ted Nelson: Der Hypertext-Erfinder druckt ein Buch (Spiegel Online, 21.1.2009)
Ted Nelson
Der Hypertext-Erfinder druckt ein Buch
Erfolgloser Visionär: Jahrzehnte, bevor es Heimcomputer gab, hat Ted Nelson viel beschrieben, was heute Alltag ist oder noch werden soll – Hyperlinks, Mikrotransaktionen, das semantische Web. Viel Geld hat er damit nicht verdient. Mit 71 Jahren veröffentlicht er seine IT-Geschichte – im Selbstverlag.
Spiegel Online, 21.1.2009
Bill Gates wurde gerade zehn Jahre alt, der Internet-Vorläufer Arpanet war noch nicht einmal fertig geplant, im Sommer 1965 also stellte sich der junge Soziologe Ted Nelson an ein Rednerpult in Ohio und schwärmte vom Hypertext. Heute lesen sich manche Passagen in Nelsons Aufsätzen von damals wie eine Beschreibung der Gegenwart – dass Texte an verschiedenen Veröffentlichungsorten im Web miteinander verknüpft sein können, ist inzwischen Alltag. 1965 war das eine fast unerhörte Idee.
In seinen Lebenslauf hat der inzwischen 71-jährige Ted Nelson eine bezeichnende Passage geschrieben: “Words” ist sie betitelt, Worte also. Und hier führt Nelson mit Erstveröffentlichungsjahr all die Begriffe auf, die er geprägt habe und die sich erst lange danach zu Allerweltsbegriffen entwickelt hätten. “Hypertext” zum Beispiel (1965 von Nelson verwendet), “image synthesis” (1970) und “virtuality” (1977).
Fest steht: Ted Nelsons Visionen haben viele der heutigen Computer-Multimillionäre begeistert. Apple-Mitgründer Steve Wozniak nennt Nelson “eine der inspirierendsten Figuren der Heimcomputer-Revolution”. Sein 1974 erschienenes 300.000-Wort-Manifest “Computer Lib – You can and must understand computers now” trieb die jungen Wilden an, die Welt durchs Programmieren zu ändern. “Computer Lib” war die Bibel der Technologie-Utopisten – heute gehen gebrauchte Exemplare für mehr als 100 Dollar bei Amazon weg.
Ein Visionär wird zur Randnotiz der Web-Geschichte
Doch Nelsons Lebenslauf birgt eine ganz eigene Tragik: Denn dieser Mann, dessen Visionen, Ideen und Konzepte Generationen von Programmierern inspiriert haben, hat kein Vermögen gemacht. In seinem Lebenslauf stehen keine Firmengründungen, keine Aufsichtsratsposten, keine Fusionen und gerade mal zwei Patente. Zugespitzt ließe sich die Bilanz so formulieren: Nelson hatte viele Ideen, das große Geld mit der Digitalisierung haben andere verdient.
In den vergangenen 15 Jahren geriet Nelson in Vergessenheit. Seine Geschichte, seine Vision eines Hypertext-Systems namens Xanadu war in Medienberichten – wenn überhaupt – eine Randnotiz in Artikeln über den Siegeszug eines sehr bekannten Hypertext-Protokolls namens World Wide Web. ” Wired” nannte in einem nicht besonders netten Artikel 1995 Nelsons Projekt der universellen, digitalen Hypertext-Weltmediathek Xanadu das “am längsten laufende Vaporware-Projekt der Computergeschichte”. “Vaporware”, das ist Software, die nie über die Ankündigung hinauskommt. Xanadu – eine Luftnummer?
Die vergangen Jahre hat Nelson als Gastwissenschaftler in Japan und Großbritannien gelebt, im vorigen Jahr kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück, um in einem Häuschen in dem Dorf Port Murray 80 Kilometer westlich von New York seine persönlich Version der IT-Geschichte aufzuschreiben. Nun ist das Buch ” Geeks Bearing Gifts: How the Computer World Got This Way” erschienen – im Selbstverlag, zu beziehen über das Buchdruckportal Lulu.com.
200 Seiten IT-Kulturgeschichte
In einem der 47 Kapitel erklärt Nelson, auch mit ein wenig Bitterkeit, warum aus seiner Vision Xanadu in fast 50 Jahren kein brauchbares Computersystem geworden ist. Das “radikale” Konzept hatte eine “totale Ersetzung von Papier durch Computerschirme” als Ziel, einen Paradigmenwechsel vom Dogma der hierarchischen, sequentiellen Strukturierung von Inhalten durch ein radikal anderes System. Eine Revolution und Vereinheitlichung von “Medien, Arbeitsumgebung und Urheberrecht”. Aufgehalten werde dieses Projekt seit nun fast einem halben Jahrhundert durch “gegnerische Computertraditionen, Kulturkämpfe und Flügelkämpfe”.
Nelsons 200-Seiten-Geschichte der Computertechnik und Digitalisierung beginnt mit dem Kapitel “Hierarchie”. Hierarchie sei die “offizielle Metaphysik der Computerwelt”, wie wir sie heute kennen. Interessant wird es, wenn Nelson ein wenig Kulturgeschichte betreibt, Parallelen zwischen Ideen von Aristoteles, dem Dezimalsystem, objektorientierter Programmierung und der Gestaltung der Auszeichnungssprache XML beschreibt.
Man muss nicht Nelsons Meinung sein (natürlich setzt er dem Hierarchie-Dogma seine Hyptertext-Vision entgegen), um sein Buch zu lesen – ein wenig Interesse an Computer- und Ideengeschichte genügt.
Wikis, Backlinks und Embed-Code statt Xanadu
Gleicht man einige von Nelsons Vorstellungen mit der Gegenwart ab, fehlt noch immer so einiges, was er in den Sechzigern erträumte. Seine Vision der universellen, automatisierten Zweiwege-Hyperlinks zum Beispiel ist noch immer nicht umgesetzt. Nelson wollte in seinem Hypertext-System Xanadu einen Standard schaffen, der jedes Mal, wenn irgendwo ein Digital-Text mit Zitaten aus einem anderen Dokument erscheint, automatisch auch in dem zitierten Dokument einen Verweis zu der zitierenden Arbeit einstellt. Das ist inzwischen bei Blogs dankt automatischer Backlinks teilweise möglich, aber im Web an sich noch immer nicht Standard.
Von Nelsons anderen Ideen ganz zu schweigen: Er wollte das Urheberrecht reformieren, so dass jeder Autor, der per Xanadu Hypertexte veröffentlicht, ein gewisses Zitierrecht einräumen muss, aber die Verweise auf seine Urheberschaft sicherstellen kann und für bestimmte weitergehende Verwertung sogar automatisch über eine Mikrobezahlsystem entlohnt wird. Soweit ist das Web bis heute nicht.
Allerdings ist das Web Nelsons Vision in den vergangen Jahren näher gekommen: Wiki-Software archiviert und verwaltet ältere Versionen von Dokumenten, digitale Mikrobezahlsysteme wie Paypal oder Google Checkout sind etabliert, das Einbetten von Videos und Fotos ist samt automatischer Backlinks zum Ursprung möglich, alternative, webgerechte Lizenzen zum Weiterverwenden von Fotos, Videos und Texten wie Creative Commons sind entstanden.
Wie heißt es doch auf einer Internet-Seite des noch immer nicht offiziell für tot erklärten Projekts Xanadu:
“Seit 1960 kämpfen wir für eine Welt mit tiefgehenden digitalen Dokumenten – samt reibungsloser Weiterverwendung urheberrechtlich geschützten Materials. (…) Das World Wide Web (eine weitere Papier-Nachahmung) trivialisiert unser ursprüngliches Hypertext-Modell, weil es nur Einbahnstraßen-Links gibt und gar keine Verwaltung von Versionen oder Inhalten. Wir kämpfen weiter.”
Inzwischen kämpfen aber auch andere mit. Und vielleicht entsteht aus Wikis, alternativen Lizenzen und noch zu schreibender Software einmal so etwas wie Xanadu. Doch so wie heute aussieht, wird sich dann irgendwann einmal, wenn es soweit ist, wohl kaum jemand daran erinnern, was Ted Nelson sich damals ausgedacht hatte.