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Telefon im Taubenschlag (Jungle World 04.08.1999)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Telefon im Taubenschlag

Als ihm 1951 seine erste Brieftaube zuflog, stand in Essen hinter fast jedem Zechenhäuschen noch ein Taubenschlag. Heute gehört Manfred Sander zu einer aussterbenden Spezies

Jungle World 04.08.1999

Glückauf heißt die Siedlung, Bergmannsglück die Straße. Doch die alten Zechenhäuschen im Essener Norden haben sich gut versteckt. Hinter weißem Putz, frischen roten Ziegeln, hellen Kacheln. Keine 600 Meter entfernt werden sie von zwei Fördertürmen der Zeche Zollverein überragt.

1986 machte die letzte Grube in Essen dicht. "Mit dem eckigen Turm haben wir manchmal 20.000 Tonnen am Tag von unten geholt", murmelt Manfred Sander (66). Ein Jahr vor seiner Zeche ging er in Pension. In Jogginghose schlendert Sander durch seinen Garten. Im Taubenschlag gurrt es schon. Dienstag früh. Zeit für die Fütterung mit der Reiseplus- Körnermischung. Am Sonntag haben die Tierchen ja gut 400 Kilometer zu schaffen. Die Tauben sind Sander aus der Bergmannszeit geblieben. Seit 48 Jahren züchtet, füttert und schickt er sie auf Rennflüge.

In einem weiß verputzten Steinhäuschen wohnen die Tauben. Früher hielten Bergmannsfamilien in diesen Ställen Schafe, Schweine, Gänse, Hühner. Innen ist es hell. Es riecht penetrant nach Menthol. Anti-Ungeziefer-Spray. Immerhin hausen hier gut 100 Tauben. Links am Einflug die Taubenmänner, die als einzige hier zu Wettflügen antreten. Hinten die Taubenfrauen und oben im Spitzdach die Jungtäubchen.

Am Eingang stehen Holzkisten mit Körnern drin. Fünf verschiedene Sorten, je nach Mischverhältnis mehr grau, braun oder orange. Gerste ist da drin, Weizen und andere Leckereien. Vor Wettkämpfen gibt's nur Kohlenhydrate, danach Eiweiß zum Aufbauen. "C-Phos-Mineralienmischung" hält die Tierchen fit. Sander streut jeder Flugtaube eine Handvoll Körner hin. Eine pickt aus seiner Hand – "mein bester Mann". Richtiges Frühstück gibt's nach dem Training. Das heißt eine Stunde fliegen. Sander öffnet den Einflug, die Männchen flattern recht motiviert von dannen.

Kurz nachdem er Taubenvater geworden war, begann Sander unter Tage zu schuften. 1951 flog ihm eine Brieftaube zu. Hinter fast jedem Zechenhäuschen stand damals ein Taubenschlag. Samstag setzte die halbe Siedlung ihre Tauben in die Transportboxen, Sonntags war man im Preislokal. Für fünf Mark kaufte Sander sich ein Taubenweibchen, hielt das Pärchen in Großvaters alter Schreinerei. Nach einem Jahr hatte er sechs Tauben, nach zwei Jahren 16. Mehr wurden es auch nicht, als er noch im Pütt malochte. Im Ruhestand gönnte er sich dann an die 100. Zwar heißen sie alle Hansi, doch Sander erkennt jede – "Die bewegen und benehmen sich doch ganz unterschiedlich".

Samstag mittag. Die Tauben werden in den Transporter eingeladen, der sie zum Abflugort bringt. Im grauen Kombi rollt Sander auf den Katernberger Hinterhof der Einsetzstelle seiner Reisevereinigung. In einer hohen, dämmrigen Holzscheune stapeln sich die Holzkisten mit den Tauben. Sander stellt seine dazu. Gut 20 alte Herren sind versammelt, laufen zwischen den Kisten umher, sitzen mit Pils in der Hand an verkratzten Holztischen. Hinter ihnen blättert die weiße Farbe von den Wänden. Eine vergilbte Ehrenurkunde hängt da: "Gewidmet der Vereinigungswirtin Elisabeth Groote, 1957". Ihre Mutter ließ 1912 die Brieftaubenvereinigung Katernberg die Scheune auf ihrem Grundstück bauen. "Eigentlich brauchen wir die große Halle doch nicht mehr. Unseren eigenen Aussetzwagen mußten wir schon lange abgeben. Wir sind ja nur noch 16 aktive Züchter. Vor 20 Jahren waren wir noch 200." Hans Horstig (79) blickt traurig aus triefig-blauen Augen. Zusammengesunken sitzt er da, auf seinen Stock gestützt, flüstert. Seit 51 Jahren züchtet er Tauben. "Das stirbt langsam aus. Früher wohnte hier jeder zweite im Zechenhäuschen mit Stall. Da konnte man ohne Probleme Tauben halten. Aber die Leute wollen das heute auch gar nicht mehr. Mein Sohn will, daß ich die Tiere weggebe. Aber sie sind das einzige, was mir noch geblieben ist. Die paar Jahre wird es wohl noch gehen." Horstig nimmt erst mal einen Schluck Pils.

Sander zückt eine Flasche Metaxa, drückt sie dem Werner in die Hand. Werner wird heute 65 – und überwacht im Blaumann wie jeden Samstag das Taubeneinsetzen. "Kannste dir mal nen Schnaps trinken", lacht Sander. Die versammelte Runde köpft darauf die Pilsflaschen. Hans Steinröder mit besonderem Genuß. Der 78jährige in blauer Adidashose, kariertem Hemd und Honeckerbrille sehnt sich auch nach der guten alten Zeit: "Da hatten wir noch richtig Spaß, da wurde Kohle auf die Vögel verwettet. Immer ein paar Tausender." Heute sind es bloß 42 Mark. Die Züchter wetten kaum noch. Flüge sind Hobby, das Geld weniger locker. Steinröder beißt sich durch. "Hält mich ja nix außer den Tieren am Leben". Er kippt die Flasche. "Und wenn du doch abkratzt, krieg' ich deine Tiere?", fragt Sander.

Der Taubenlaster ist da. 4.000 Tiere aus dem Ruhrrevier fährt er in ihren Transportkäfigen übereinandergestapelt nach Jesewitz. Morgen früh gegen sechs werden sie ausgesetzt. 400 Kilometer Luftlinie sind's nach Essen. Die 417 Tiere der Katernberger sind registriert und abgepackt. In zehn Minuten hat Werner mit Konsorten sie in den LKW geschoben. Im Vereinsheim wird das letzte Pils geleert. Werner hebt seinen Metaxa für später auf.

Sonntag Mittag. In der "Zollverein Klause" wird gebechert. Auf einem Billiardtisch im Halbdunkeln ist ein Laptop aufgebaut. In jedem Taubenschlag hat ein Lesegerät die Identifikationsnummern der ankommenden Tauben samt Uhrzeit und genauer Position registriert. In der "Zollverein Klause" werden die Geräte ausgelesen. Die endgültige Siegerliste ist am Mittwoch berechnet. Wer gewonnen hat, haben die Veteranen aber jetzt schon raus. Heute zählen alle eher zu den Verlierern. Ein Drittel der Tauben fehlt noch. Einige kommen spät, einige nie. Manchmal fehlt den Tierchen einfach die rechte Lust. Es wird weitergetrunken. Und Anekdoten erzählt. Vom Dieter, der in drei Jahren die von Oma geerbten Häuser in Mischa's Kännchen an Zuhälter verzockt hat. Oder von Helga, die mal vor Jahrzehnten nackt auf einem Tisch tanzte.

Die Anekdoten sind bald erzählt. Sander wird schwermütig: "In die Kneipe kommen die jungen Leute ja auch nicht mehr. Wie mit den Brieftauben." Auf dem Weg nach Hause kommt er an der Zeche Zollverein vorbei. Touristen stehen da, schauen sich die Vergangenheit an, wollen ins Designzentrum. Sander war seit 1985 nicht mehr da. "Da gehöre ich nicht mehr hin."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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