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Tyrannenblut (Frankfurter Rundschau, 9.6.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Tyrannenblut

Die Bombe, die McVeigh gezündet hat, traf Amerika ins Herz – und kam gleichzeitig aus dessen Mitte: Timothy Mc Veigh, Thomas Jefferson und die Freiheit

Frankfurter Rundschau, 9.6.2001

Am Morgen des 19. April 1995 verließ kaum ein Wagen Oklahoma City. Alles raste in die Stadt: Polizeiautos, Feuerwehrzüge, Krankenwagen und Menschen, die herausfinden wollten, ob ihre Angehörigen die Bombenexplosion im Alfred-P.-Murrah Regierungsgebäude überlebt hatten. In die entgegengesetzte Richtung fuhr ein gelber Mercury Sedan. Darin saß Timothy McVeigh, der vor einer Stunde 2200 Kilo Sprengstoff gezündet, 167 Menschen ermordet und 509 verletzt hatte.

An ihm war nichts auffälliges: Ausgebleichte, schwarze Jeans, ein Windbreaker, eine Pistole im Schulterholster. Angehalten und zur Polizeiwache geführt wurde er, weil an seinem Wagen die Kennzeichen fehlten und er keine Versicherung nachweisen konnte. Auf dem Weg zur Polizeistation plauderte der Beamte mit dem McVeigh über die Waffen und Autos der Polizei. Niemandem fiel das T-Shirt auf, das McVeigh trug. Natürlich nicht, denn es war das Hemd eines amerikanischen Patrioten. Auf der Rückseite stand ein Zitat von Thomas Jefferson: "Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden."

Hinter dem Oklahoma-Anschlag vermuteten die Behörden zunächst arabische Terroristen. Timothy McVeigh war kein Araber, sondern Golfkriegsveteran. McVeigh war ein amerikanischer Terrorist – der amerikanischste, den man sich denken kann. Er glaubte, mit seinem Anschlag die individuelle Freiheit der amerikanischen Bürger gegen die Interventionen der Zentralregierung zu verteidigen.

Diese Definition der Freiheit als Abwesenheit eines zentralistischen Staatsapparates ist durchaus eine Form der amerikanischen Zivilreligon von Freiheit, Nationalismus und Glauben, zurückführbar auf die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten. Doch für Thomas Jefferson war nur die Unabhängigkeitserklärung ein heiliges, unantastbares Dokument. Die Verfassung, welche die Grundlage für eine Zentralregierung schuf, sah er immer als Verhandlungsmasse eine fortwährenden politischen Kompromisses. In seinem Präsidentschaftswahlkampf 1800 betonte er ausschließlich die Rechte der Einzelstaaten gegenüber dem Bund. Er mochte die Zentralregierung nicht. In seiner Grabinschrift erwähnt er die zweimalige Präsidentschaft nicht. Zu seinen großen Taten zählt er die Unabhängigkeitserklärung und die Gründung der Universität von Virginia.

Jefferson glaubte an die individuelle Freiheit, die auch als eine wilde, anarchistische verstanden werden kann. 1793 schrieb er, dass es für Gewalt zur Verteidigung der Freiheit keine moralischen Grenzen gebe. Diese Idee bestimmt bis heute die amerikanische Gesellschaft – in ständiger Konkurrenz zu der der übrigen der übrigen Gründerväter, die an eine Verfassung nach Edmund Burkes Grundsätzen glaubten: Ordnung, gesellschaftliche Zusammenarbeit, Kontrolle der Regierung, Dominanz des Rechts, eine gewisse Ausgewogenheit zwischen Reichtum und Armut.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Grenze zwischen den Trägern dieser beiden Konzepte zu ziehen: zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, oder zwischen Stadt und Land. Es ist kein Zufall, dass Jefferson vor allem in den Südstaaten verehrt wurde. Zu den Worten auf McVeighs T-Shirt wurde Jefferson durch die sogenannte "Shay's Rebellion" von 1787 inspiriert wurde. Daniel Shay war ein Held des Unabhängigkeitskrieges. Als in seiner Heimat Massachusetts in den 1780er Jahren mehr und mehr Bauern ihr Land an die Kreditgeber verloren, organisiert Shay Widerstand. Bürgerwehren schlossen die Gerichte und verhindern so Zwangsversteigerungen. Die Aufständischen trugen Immergrün-Zweige an ihren Hüten, wie sie es im Krieg gegen die tyrannische Kolonialmacht England getan hatten. Wieder fühlten sie sich von einer zentralistischen, weit entfernten, elitären Regierung im Stich gelassen. Angesichts dieser Aufstände nannte Jefferson die Landbevölkerung das moralische Rückgrat der Nation. Für ihn bewahrten die Bauern, Viehzüchter, Cowboys und Handwerker weit entfernt von den korrumpierenden Einflüssen des urbanen Lebens die amerikanischen Ideale der Gleichheit, Unabhängigkeit und Freiheit.

Auch McVeigh und sein Mittäter Terry Nichols stammen aus Kleinstädten, Nichols wuchs auf einer Farm auf. Für Menschen wie McVeigh hat die Historikerin Catherine McNicol Stock den Begriff der "rural radicals" geschaffen. Sie unterscheidet zwei Denkrichtungen. Zum einen den "producer radicalism", der mit größtenteils legalen Mitteln wie Interessenverbänden und Demonstrationen gegen die Macht großer Unternehmen und für eine liberale Wirtschaftordnung kämpft. Zum anderen die "culture of vigilantism", in der Milizen und Bürgerwehren das Gesetz selbst in die Hand nehmen.

Das Selbstverständnis der rural radicals entspringt den Erfahrungen der frontier. Der Begriff bezeichnet nicht nur unerschlossene Landareale. Vielmehr verweist der Mythos vom Zug nach Westen auf das immer noch mächtige Ideal des Raumes ohne Staat: Statt eines kodifizierten Rechtes der Pioniergeist und die Dynamik des Einzelnen. Wenn der Staat diesen Raum domestiziert, ist der Fortschritt am Ende.

Die frontier ist rechtsfreier Raum; deshalb muss jeder Bürger das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Im 18. Jahrhundert gibt es in Süd-Carolina Bürgerwehren, die nicht nur die Farmer vor Überfällen schützen, sondern auch gegen Feinde im Inneren vorgingen: untreue Ehemänner, Spieler, Besitzlose. Auch als die Zivilisation den Pionieren folgte, blieb die Selbstjustiz der frontier in Konkurrenz zur staatlichen Rechtssprechung. 1892 wurden in den Vereinigten Staaten doppelt so viele Menschen gelyncht wie durch ein ordentliches Gericht zum Tode verurteilt. Heute noch sehen die Amerikaner eher das Volk als Träger der uramerikanischen Werte als die Justiz – das Volk auf dem Land.

Diese Landbevölkerung aber musste ihren Lebensstil immer wieder gegenüber der ökonomisch weit erfolgreicheren urbanen Prinzip verteidigen. Je abhängiger die Landbevölkerung von den prosperierenden Städten wurde, desto mehr wurde ein Schuldiger gesucht: Die Regierung, die keine Ahnung hat. Es gab in den 30-er Jahren Proteste gegen den "Agricultural Adjustment Act", den Präsident Roosevelt 1933 als Teil des New Deal initiierte. Die Farmer wollten sich nicht von Experten der Zentralregierung vorschreiben lassen, wie sie ihr Land zu bestellen haben. Laura Ingalls Wilder schrieb damals als Protest gegen die staatlichen Interventionen des New Deal ihre Romanreihe Little house on the prairie: Pure Frontier-Nostalgie, der Böse war immer Repräsentant der staatlichen Macht. In den siebziger Jahren wurden die extrem erfolgreichen Bücher als Fernsehserie verfilmt. Timothy McVeigh liebte die Sendung. Er las Geschichtsbücher über das Leben an der frontier und wunderte sich, dass damals Menschen eine Einkommenssteuer von fünf Prozent als Eingriff in ihre individuelle Freiheit sahen, während gegenwärtig bis zu 33 Prozent akzeptiert werden. McVeigh glaubte zu verstehen, warum etwa 1982 der Farmer Jim Jenkins angesichts der drohenden Zwangsversteigerung mit einer Schrotflinte zwei Bankbeamte auf seinem Grundstück erschoss. In den 70-er Jahren hatte Präsident Carter den Farmern das Motto vorgegeben: get bigger or get out. Land wurde auf Kredit gekauft.

Dann fielen in den 80-er Jahren die Getreidepreise und die Zinsen für die Kredite stiegen. McVeighs Mittäter Terry Nichols verlor damals sein Eigentum. Als die Farmer staatliche Wiedergutmachung für staatliche Fehler forderten, witzelte Ronald Reagan: "Warum exportieren wir nicht unsere Farmer, wenn wir unser Getreide nicht loswerden?" Die damaligen Bauernproteste in Washington sind nicht eindeutig einem linken oder rechten politischen Hintergrund zuzuordnen, und das gilt für viele politischen Bewegungen auf dem Land. Natürlich gibt es den Ku Klux Klan, aber es gab auch Organisationen, die eine Art ländlichen Kommunitarismus schaffen wollten.

Der Bombe, die McVeigh gezündet hat, traf Amerika ins Herz – und kam gleichzeitig aus dessen Mitte. "Wenn der Anschlag in Oklahoma City ein Protest gegen die Zentralregierung und ihr Vorgehen in Waco sein sollte, war er schlecht, da unnötig unmenschlich. Effektiver Protest hätte mit weit weniger Schaden für unschuldige Menschen geleistet werden können." Ein durchaus vernünftiger Satz, den viele Amerikaner unterschreiben würden. Nur stammt dieser Kommentar von dem sogenannten Unabomber Theodore Kaczynski, der mit Paketbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte. Kaczynski lehnt jede Technik ab, weil sie individuelle Freiheit vernichtet. Er glaubt ebenso wie McVeigh und die Soldaten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, die amerikanischen Bürger vor einer allzu mächtigen Elite retten zu müssen. Kaczynskis Kritik an McVeigh wurde in den Vereinigten Staaten von Medien begeistert als eine "erstaunlich humanistisch"; Aussage zitiert. Sie begeisterte jedoch nicht, weil sie human ist. Sie begeisterte Amerika, weil sie so amerikanisch ist.

Wenn am 11. Juni die Angehörigen der Opfer von Oklahoma die Hinrichtung McVeighs auf dem Fernsehschirm verfolgen, werden sie sich mit dem Staat identifizieren, der für sie tötet.

"Ich vermute, dass er von Natur aus ein Abenteurer war", so sagt Kaczynski über seinen Sprengkollegen McVeigh. "Nur hat Amerika, seitdem die frontier nicht mehr besteht, wenig Platz für Abenteurer."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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