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Unternehmer im Mitmach-Netz: "Ich bin jetzt verdammt betrunken" (Spiegel Online, 10.7.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Unternehmer im Mitmach-Netz

"Ich bin jetzt verdammt betrunken"

Es gibt Web-Unternehmer, die plaudern in öffentlichen Netzforen über ihren Alkoholkonsum oder den Kampf gegen ihr Übergewicht – und überschreiten dabei gelegentlich die Grenze zur Selbstentblößung. Ein Jurist hat eine Firma gegründet, um peinliche Postings aus dem Web 2.0 zu löschen.

Spiegel Online, 10.7.2007

Das hat sich Thomas Hawk anders vorgestellt: Der Geschäftsführer des US-Foto-Portals Zooomr stöbert in den Nutzer-Foren seines übermächtigen Konkurrenten Flickr. Er lästert hier ab und an über Flickr-Unzulänglichkeiten und lobt den eigenen Foto-Dienst Zooomr. Doch an diesem Abend im Juni verwickeln die Foren-Nutzer Hawk in eine unangenehme Diskussion: Zooomr sei eine Kopie, eine schlechte obendrein. Hawk diskutiert, bestreitet, wütet bis weit nach Mitternacht, bis er schreibt: "Ich bin jetzt verdammt betrunken, besser ein anderes Mal weiterreden."

Ein Geschäftsführer, der auf den Seiten der Konkurrenz herausposaunt, dass er gerade betrunken über Interna plaudert? Ein Silicon-Valley-Geschäftsführer, der öffentlich zugibt, er könne "Programm-Code nicht von Zeitungsschrift unterscheiden"? Dass das nicht unbedingt seriös wirkt, merkt Hawk noch während dieser Debatte. Zum Abschied schreibt er: "Ich muss jetzt aufhören zu fluchen und zu trinken und ins Bett. Ich muss in drei Stunden aufstehen."
Freiwillige Selbstentblößung

Solche Online-Peinlichkeiten sind die Begleiterscheinung einer größeren Entwicklung: Immer mehr Webseiten bestehen allein aus privaten Fotos, Texten und Kommentaren ihrer Mitglieder. Es scheint normal, Privates zu erzählen. Denn alle tun das bei Twitter, Flickr, MySpace und Co. US-Psychologin Jean Twenge hat das Phänomen der freiwilligen Selbstentblößung in ihrem Buch "Generation Me" beschrieben. Sie sagt zu SPIEGEL ONLINE: "Heute bleibt weniger privat. Das ist ein Kultur- und Generationenwandel." Die freizügige Selbstdarstellung im Web sieht Twenge nicht als Ursache, sondern als Folge eines größeren gesellschaftlichen Wandels "hin zu mehr Offenheit".

Junge Unternehmer sind Teil dieser Generation. Und so kann man bei Flickr nachlesen, dass Zooomr Geschäftsführer Thomas Hawk zwei Flaschen Wein getrunken und nicht vertragen hat – was eindeutig mehr gewesen sei als seine "üblichen paar Gläser", schreibt er.

Man kann im Netz auch verfolgen, wo sich der Gründer und Geschäftsführer des Internetdienstes Plazes.com Felix Petersen gerade aufhält und was er tut. Gestern war er zum Beispiel bei der "Financial Times" und dem "PC Magazin" in New York – Werbung für seinen Dienst machen wahrscheinlich. Davor hat er sich ein iPhone gekauft und dann gehackt.

Ärger wegen zu viel Offenheit

Solche Einträge haben Petersen vor einem Monat einigen Ärger mit dem Veranstalter einer Konferenz in Amsterdam eingehandelt. Da sollte Petersen an einem Freitag einen Vortrag halten. Er sagte am Donnerstag ab, weil seine Tochter krank war. Und dann lasen die Veranstalter auf Petersens Plazes-Profil, er sei in Kopenhagen, auf einer anderen Konferenz und trinke gerade Bier und Wein. Große Empörung, viel Schadenfreude, Blog-Tenor: Die eigene Software verpetzt den Plazes-Chef.

Inzwischen ist die Sache geklärt: Petersen wollte ursprünglich am Freitag von Kopenhagen nach Amsterdam reisen, sagte aber ab, als er hörte, dass seine Tochter krank ist und er am Freitag womöglich zur Familie nach Berlin müsse. Der Tochter ging’s dann besser, Petersen blieb in Kopenhagen, nachdem er in Amsterdam schon abgesagt hatte.

Dieses Skandälchen hat der größte Teil der IT-Branche mitverfolgt, auch Branchen-Blogs in Kalifornien berichteten. Und das alles wegen der drei Sätze: "Reboot, Kopenhagen: Trinke ein Glas Wein", "Trinke ein Bier", "Dinner."

Firmen beseitigen die Spuren

Es geht auch peinlicher. Wenn es das wird, muss oft Michael Fertik die Folgen von zu viel Zeigefreude beseitigen. Der Harvard-Jurist ist Gründer und Geschäftsführer von ReputationDefender. Das im vorigen Oktober gegründete Unternehmen entfernt gegen Bezahlung Internet-Veröffentlichungen, die seinen Kunden peinlich sind. Fertik gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Die Hälfte der Blog-Einträge, Kommentare und Forenbeiträge haben unsere Auftraggeber selbst verfasst."

Wenn diese sich nicht so leicht löschen lassen, bittet ReputationDefender Seitenbetreiber darum, verhandelt, drängt, versucht eine Löschung oder zumindest eine Anonymisierung der Einträge zu erreichen. Es gibt offenbar viel Bedarf nach solchen Diensten: Laut Fertik arbeiten inzwischen 40 Leute für ReputationDefender. Die müssen dann zum Beispiel die detaillierten Auskünfte eine Teenagers über das Einkommen seiner Eltern aus Webforen entfernen oder die in Foren veröffentlichten Sex-Phantasien eines inzwischen älter und reifer gewordenen Autors.

Gründe: Therapie, Gemeinschaft, PR

Fertik kennt aus seiner Arbeit die unterschiedlichen Gründe für solch offenherzige Darstellungen im Web: "Manche schreiben über ihre Probleme, um mit ihren fertig zu werden. Andere fühlen sich sicher, als Teil einer Gemeinschaft, die sie versteht, wo sie alles schreiben können. Und manche sind einfach unachtsam." Bei Geschäftsführern, die sich im Netz selbst darstellen, sieht Fertik noch ein anderes Motiv: "Das ist manchmal klare PR, der Versuch, sich ein transparentes, sympathisches Image zu geben."

Eindeutig PR ist es, wenn der Brite Richard Charkin, Vorstandschef des Wissenschafts-Verlags Macmillan bloggt, er habe auf einer Messe ein Notebook am Google-Stand geklaut. Google habe ja nicht ausdrücklich gesagt, er solle das nicht tun. Hier spielt Charkin auf die von ihm so interpretierte Haltung des Internet-Konzerns an, man könne alle Bücher digitalisieren, bei denen Verlage nicht ausdrücklich dagegen protestiert hätten. Dieses Geständnis eines Diebs ist eindeutig PR. Aber was ist mit den endlosen Tiraden des Web-Millionärs Jason Calacanis zu seinem Übergewicht?

Ein dicker Millionär praktiziert Fatblogging

Calacanis hat das Blog-Netzwerk Weblogs Inc. gegründet (da wog er 82 Kilo), aufgebaut und für 30 Millionen Dollar an AOL verkauft (da wog er 103 Kilo). Derzeit arbeitet er an seiner neuen, von Menschen gefütterten Suchmaschine namens Mahalo und benutzt sein Weblog (lesen 10.000 Menschen täglich) fürs "Fatblogging".

Es begann am 9. Februar mit dem Eintrag: "Jeder weiß, dass ich mich hier aufrege, dass ich mal schlank war und heute fett bin." Und dann erzählt Calacanis, dass er ein Laufband gekauft habe. Seither veröffentlicht Calacanis regelmäßig Gedanken zu seinem Gewicht, seiner Ernährung, seinen sportlichen Aktivitäten. Am 23 Mai hatte er auf 95 Kilo abgespeckt.


Warum Unternehmer so etwas schreiben? Es liegt sicher nicht nur an dem "falschen Gefühl der Anonymität im Internet", sagt Psychologin Twenge. Denn: "Menschen bloggen nicht nur freizügiger, sie reden auch viel offener." Nur ist das im Netz nicht immer positiv.

"Irgendwann bereuen sie die Offenheit"

Michael Fertik von ReputationDefender berichtet aus seiner Erfahrung als Rufretter: "Für Unternehmer ist solche PR zweischneidig. Solange alles gut läuft im Geschäft, können sie im Netz schreiben, was sie wollen. Doch sobald es Schwierigkeiten gibt, werden Leute all die peinlichen Details der früher amüsanten Geschichten benutzen, um sich lustig zu machen."

Fertiks Fazit: "Irgendwann kommt der Tag, an dem sie die Offenheit bereuen." Bei Thomas Hawk ist das schon am Morgen nach seinen zwei öffentlich geleerten Flaschen Wein der Fall. Der Zooomr-Geschäftsführer schreibt im Flickr-Forum, er hätte um Mitternacht ins Bett gehen sollen, "anstatt die zweite Flasche aufzumachen und im Internet zu bleiben und einige Kommentare zu schreiben, die nun für alle Zeit archiviert sind und die ich lieber nicht gemacht hätte."

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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