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Unterwerfung und Transzendenz (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
13 minuten gelesen

Unterwerfung und Transzendenz

Ein Streifzug entlang den Traditionslinien des Computerspiels

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4.2003

Als sich über tausend Computerspieler im texanischen Mesquite einfanden, um bei der alljährlichen "Quakecon" ihr Können zu messen, die neuesten Spiele und Technologien zu erproben, entstand en passant ein schönes Bild für die Geschichtslosigkeit der Computerspielindustrie: Über vier Stockwerke gespannt, verkündete ein schwarzes Plakat an der Fassade des Konferenzzentrums, in das Spieler und Industrievertreter vier Augusttage lang strömten: "Doom III: The Legacy of Evil Lives On". Dieser Slogan konnte nicht nur als Werbung für ein neues Spiel, sondern auch als ironischer Seitenhieb auf die Geschichte Mesquites gelesen werden. 1976, vier Jahre nachdem die ersten Videospielautomaten überhaupt erschienen waren, verbot der Stadtrat dort Minderjährigen den Zugang zu Räumen mit Videospielen. Man fürchtete deren Suchtpotential. Ein Gericht veranlaßte bald die Rücknahme der Verordnung. Heute ist Mesquite sogar Standort des international für seine ebenso gewalthaltigen wie graphisch revolutionären Spiele bekannten Herstellers "id Software" und der von ihm gesponserten "Quakecon", zu der Spieler aus der ganzen Welt Jahr für Jahr anreisen. Wenige erkannten wohl, daß das grundlegende Prinzip des in Mesquite so gefeierten Spiels auf ebenjene Videospielautomaten zurückgeht, die dort vor mehr als einem Vierteljahrhundert frenetisch bekämpft wurden. Was der Kunsthistoriker Erwin Panofsky 1936 in seinem Essay "On Movies" für die Filmkunst beklagte, gilt heute für Computerspiele: Es leben noch viele Menschen, die ihre Entwicklung von Anfang an miterlebt haben – doch dieses Potential für Geschichtsschreibung und kulturwissenschaftliche Analyse bleibt ungenutzt.

Natürlich sind die Spielgenres heute nicht dieselben wie vor vier Jahrzehnten, als die ersten Spiele überhaupt erschienen. Dennoch kann man die grundlegenden Entwicklungslinien aus jener Urzeit an den Universitäten und in den Spielhallen bis in die Gegenwart verfolgen.

Das erste Computerspiel war ein Actionspiel. 1958 lief es auf einem elektronischen Computer des bei New York gelegenen Grundlagenforschungszentrums "Brookhaven National Laboratory". Der Physiker William Higinbotham hatte es zum Tag der offenen Tür konstruiert. "Tennis for Two", wie er es nannte, wurde auf einem Oszilloskop mit nur 12,5 Zentimeter Bildschirmdiagonale gespielt: Die Spieler schlugen einen weißen Punkt mit Hilfe eines schokoladentafelgroßen Steuerkastens über eine senkrechte Linie. Ein Knauf bestimmte den Abschlagswinkel, ein Knopf löste dann den Schlag aus.

Die Diskussion, ob "Tennis for Two" nun wirklich als das erste Computerspiel gelten kann, verdeutlicht den Bedarf nach einer Abgrenzung des Computerspiels zu anderen Formen. Tatsächlich wurde bereits 1951 der elektromechanische Spielcomputer Nimrod auf dem "Festival of Britain" in London und später auf der Berliner Industrieausstellung gezeigt. Der Unterschied zwischen dem computerisierten Spiel "Nimrod" und dem Computerspiel "Tennis for Two" ist bedeutend: Bei klassischen Spielen müssen zunächst die Regeln gelernt und verstanden werden, dann erst ist das Spielen möglich. Bei Computerspielen hingegen kommt zuerst das Spiel. In dessen Verlauf prüft der Spieler die Reaktion des Programms auf verschiedene Verhaltensweisen und erlernt so schrittweise die Regeln des Spiels. Der Computer ist das Medium für solche Lernprozesse.

Drei Eigenschaften machen "Tennis for Two" zum Prototyp des Actionspiels – so befremdlich das auch beim Vergleich seiner handtellergroßen, zweifarbigen Abstraktion mit den hyperrealistischen Bildern von "Doom III" scheinen mag: "Tennis for Two" wird durch einen Konflikt vorangetrieben, den beide Parteien mit nur wenigen Handlungsoptionen austragen: Bei "Doom III" laufen und schießen die Spieler, bei "Tennis for Two" bewegen sie ihre Schläger und schlagen den Ball ab. Beide Spiele verknappen die Zeit künstlich, indem sie dem Spieler kurze Fristen für seine Reaktionen setzen. Nicht die Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten, sondern die nötige Geschwindigkeit bei der Auswahl aus dem sehr beschränkten Repertoire ist die Schwierigkeit.

Außerdem werden die Reize, auf die die Spieler in so kurzer Zeit reagieren müssen, in Actiontiteln immer stärker. Das ist eine weitere Traditionslinie, die bis in die Gegenwart verläuft: Die Qualität der von Spielen produzierten Bilder und Klänge wird häufig an der zur Produktion nötigen Technik gemessen. Unternehmen wie der Graphikkartenhersteller Nvidia stilisieren auf Treffen wie der "Quakecon" in Mesquite ihre Produkte zu einem Fetisch für Spieler. Die Anzahl der in Echtzeit und hoher Auflösung berechenbaren Schattenwürfe, Reflexionen und Bewegungen verschiedener Objekte ist dabei ein wesentliches Kriterium. Auf ähnliche Art werden oft die Spiele selbst bewertet.

Einen vergleichbaren Wettstreit um spektakuläre Sinnesreize prägten in den siebziger Jahren die Videospielautomaten. Denn diese Geräte mußten möglichst schnell – im Wettbewerb mit oft vielen anderen Geräten – die Aufmerksamkeit vorbeilaufender Spieler wecken und binden. Die aktiven Spieler wurden in den "Arcades" genannten Spielhallen meist von einigen Voyeuren umringt, die ihr Spiel betrachteten. Um den Zugang zu besonders begehrten Automaten wurde oft gestritten. Nicht zuletzt deswegen wurden wohl damals in Mesquite die Sittenhüter in der Stadtverwaltung gegen Arcades aktiv.

Die heute so berüchtigten Ego-Shooter – Actionspiele, in denen man das Jagen und Schießen aus der Sicht der handelnden Spielfigur wahrnimmt – entstanden in diesen Arcades. Das Automatenspiel "Battlezone" war 1983 einer der ersten Titel, die diese Erfahrung boten. Die Steuerung war der echter Panzer nachempfunden: zwei Joysticks, für jede Panzerkette einer, so daß eine Vielzahl von Bewegungen im Spielraum möglich wurde. Den nahm der Spieler aus der Egoperspektive wahr, er blickte nicht mehr aus einer auktorialen Sicht auf das Geschehen, sondern konnte sich als dessen Teil fühlen. Neben dem eigentlichen Ziel des Spiels – dem Zerstören von gegnerischen Panzern – fahren viele Spieler einfach in der Landschaft von "Battlezone" umher und betrachten sie. In den neunziger Jahren setzten vor allem die Spiele des Unternehmens "id Software" diese Tradition fort. Mit enormer Geschwindigkeit bewegt man sich in ihnen durch dreidimensionale Räume. Der Fortschritt von Spiel zu Spiel definiert sich daher nicht durch inhaltliche Innovation, sondern vielmehr durch die Intensivierung der Sinneseindrücke. Von "Doom" zu "Quake" verbesserte sich nicht nur die Auflösung der Graphik – die Spieler konnten nun den Blick ganz nach unten auf den Boden oder nach ganz oben an die Decke richten.

Actionspiele unterscheiden sich also von anderen Genres durch diese extreme Betonung der Sinneseindrücke. Statt der Simulation steht die Stimulation im Vordergrund. Deswegen ist ihre Beziehung zur Technik so innig.

Parallel zum dominierenden Actionkonzept bei Videospielautomaten entwickelte sich in den siebziger Jahren eine andere Spieltradition, die weit weniger Wert auf Geschwindigkeit und Sinnesreize legt. Die narrativen Spiele entstanden auf Großrechnern und später, Ende der siebziger Jahre, auf den ersten Heimcomputern. Beide Geräte konnten damals nicht die technischen Ansprüche der in Arcades üblichen Actionspiele befriedigen. Statt dessen nutzten diese Spiele die anderen Stärken ihrer Medien: Benutzer, die an Großrechnern und Heimcomputern saßen, hatten mehr Zeit, sich auf Spiele einzulassen, als die an einem Videospielautomaten stehenden, womöglich von Voyeuren umringten Arcadespieler, die zudem für jedes neue Spiel eine Münze einwerfen mußten. Auf Großrechnern und Heimcomputern konnte das Spiel weit mehr als Prozeß gestaltet werden. So wurden sie zum Ausgangspunkt der Traditionslinie narrativer Computerspiele. Diese schaffen Schritt für Schritt eine Welt mit eigenen Gesetzen und Besonderheiten, die der Spieler entdecken und erproben kann. Durch seine Handlungen ruft er eine Erzählung ab und schafft zum Teil seine eigene.

Am Anfang dieser Traditionslinie steht J. R .R. Tolkiens "Der Herr der Ringe". Ende der sechziger Jahre entstand die Idee, die von Tolkien geschaffene Welt "Mittelerde" sei im Spiel intensiver, da interaktiv, zu erfahren als in der Literatur. Diese Idee hatte Dave Arneson 1969. Sein Hobby waren strategische und taktische Kriegsspiele. In diesen Spielen werden Schlachten nach umfangreichen Regelbüchern mit miniaturisierten Einheiten auf topographischen Karten durchgespielt. Beeindruckt von "Der Herr der Ringe", wollte Arneson im Kriegsspiel einmal anstelle von Konfliktparteien Individuen spielen. In einem solchen Rollenspiel sollte die Welt von Tolkiens Mittelerde erfahrbar werden. 1971 entwickelte Arneson ein System, das Spieler als individuelle Charaktere durch virtuelle Welten laufen, Zaubersprüche sprechen und mit magischen Schwertern gegen Drachen, Hobogoblins und dergleichen kämpfen ließ. Zusammen mit einem anderen Kriegsspieler, Gary Gygax, machte er daraus das erste kommerzielle Rollenspiel: "Dungeons & Dragons". Noch heute funktionieren klassische, papierbasierte Rollenspiele nach dessen Prinzip: Der Spielleiter beschreibt den Spielern die Räume, durch die sie sich bewegen, und die Menschen, die sie treffen. Er ist die Schnittstelle zur Spielwelt. Durch diese führen die Spieler ihre Charaktere. Die Konsequenzen ihrer Handlungen bestimmt der Spielleiter nach einem komplizierten, im Regelbuch festgehaltenen System von Würfeln und auf dem Charakterbogen in Zahlen festgehaltenen Eigenschaften der Charaktere. Auf diese Weise können die Spielfiguren zum Beispiel durch Training und Erfahrung an Stärke und Geschick gewinnen.

Die Idee, statt eines menschlichen Spielleiters den Computer als alternative Schnittstelle zur Spielwelt zu benutzen, hatte 1972 ein begeisterter "Dungeons & Dragons"-Spieler der ersten Stunde. Der 32 Jahre alte William Crowther verband damals auf einem Computer seine Interessen für Höhlenforschung, Rollenspiele und Mittelerde zum Spiel "Adventure": Dessen Spieler war zuerst ein Leser. Satz für Satz mußte er sich die Welt von "Adventure" – eine unterirdische Höhle mit Schätzen und Ungeheuern – erarbeiten, mit der er über Textbefehle interagierte. "Go north" mußte er etwa eintippen oder "open door", woraufhin der Computer beschreibende Text ausgab. Eine ähnliche Spielsituation wie im Rollenspiel "Dungeons & Dragons" also, eine ganz andere jedoch als in den Actionspielen der damaligen Arcades. Der Spieler hat bei "Adventure" relativ viel Zeit für seine Entscheidungen – die Schwierigkeit ist eher, aus der Vielzahl möglicher Handlungen eine richtige auszuwählen. Hohe Geschwindigkeit ist dabei uninteressant, das Spiel macht sogar mehr Spaß, wenn man langsam, Wort für Wort und in späteren Spielen dann Bild für Bild, die Spielwelt durchwandert und kennenlernt.

In den siebziger Jahren wurde die Voraussetzung für den kommerziellen Erfolg solcher Spielkonzepte geschaffen: Die ersten Heimcomputer kamen in den Vereinigten Staaten und etwas später in Europa auf den Markt. Wenig später erschienen die ersten kommerziellen Rollenspiele: "Temple of Apshai" und "Ultima 1 – Akalabeth" 1979 für den "Apple II". Sie stehen eindeutig in der Tradition papierbasierter Rollenspiele. In einem im Vergleich zum Dogma des schnellen Schießens in Actionspielen fast unbeschränkten Prozeß entwickeln die Spieler ihre Spielcharaktere und ihr Wissen von der Spielwelt.

Engere Grenzen um seine Spieler zieht das Adventure, ein anderes Spielgenre der narrativen Traditionslinie. Anfang der achtziger Jahre hießen solche Titel in den Vereinigten Staaten "interactive fiction", in Deutschland Textabenteuer. Die "New York Times" besprach 1983 das Spiel "Deadline" im Literaturteil als sogenannte "participatory novel". Die Spielwelten der "interactive fiction" bestehen allein aus Worten. Der Spieler interagiert über Textbefehle. Er beschreibt dem Computer seine Handlungen, der Computer gibt in Reaktion darauf lange, beschreibende Texte aus. Ende der achtziger Jahre setzte sich dann das Erzählen in Bildern durch. Aber ganz gleich, ob die Spielwelten von Adventuren aus Worten oder Bildern bestanden: Im Gegensatz zu den meisten Rollenspielen geben sie ihren Spielern weit enger definierte Ziele vor. Er muß zum Beispiel eine Tür mit einem Schlüssel öffnen, der in einem Buch versteckt ist. Der Spieler muß also durch zuvor definierte Handlungen weitere Teile der Erzählung abrufen. Welche Handlungen das sind, muß er selbst herausfinden. Bei schlechtem Design droht wegen dieser engen Vorgaben leicht Frustration. Anders als bei Rollenspielen. Hier geben die zentralen Elemente Charakterentwicklung und Weltentdeckung fast zwingend eine emergente Struktur vor: ein qualitatives, unvorhersehbares Wachstum.

Bei allen Unterschieden haben aber die zwei Spielgenres Rollenspiel und Adventure eine wesentliche gemeinsame Eigenschaft, die sie von der Tradition der Actionspiele unterscheidet: Ihr Reiz liegt darin, daß sie durch Regeln und Erzählungen den Eindruck einer anderen Welt hervorrufen. Im Gegensatz zu Actionspielen wirken erzählende Spiele nicht primär durch die Intensität der durch sie hervorgerufenen Sinnesreize, sondern durch die Kontingenz und Größe ihrer aus Beschränkungen und Freiheiten geformten Weltschöpfung.

Die Struktur von Simulationsspielen ähnelt ein wenig jener der Rollenspiele: Beide laufen als emergenter Prozeß ab, in dem der Spieler bestimmte Variablen verändert und der Computer nach vorgegebenen Regeln die Konsequenzen berechnet, die dann wiederum Ausgangsmaterial der nächsten Manipulation werden. Doch anders als die erzählenden Rollenspiele benutzen Simulationen diesen Prozeß nicht vorrangig, um eine Spielwelt spürbar und erfahrbar zu machen. Vielmehr ist der Prozeß als solcher in den Simulationen das eigentliche Ziel des Spiels, nicht Mittel zur Erzählung von etwas anderem. Deshalb hat der Spieler in Simulationen ein größeres Freiheitspotential. In narrativen Spielen muß es immer einige als richtig definierte Entscheidungsoptionen geben, welche die Erzählung vorantreiben. In Simulationen hingegen kann im Prinzip auf solche Unfreiheiten in größerem Maß verzichtet werden. Allerdings nicht vollkommen, denn ein Spiel ohne Ziele ist uninteressant. Nur können Ziele in Simulationen bei weitem abstrakter formuliert werden als in anderen Spieltraditionen.

Manche Simulationen verlangen das Steuern von Fahr- oder Flugzeugen unter bestimmten, der physischen Realität nachempfundenen Bedingungen, andere taktische oder strategische Planung, Ressourcen-Management oder den Aufbau funktionierender Subsysteme, beispielsweise einer ganzen Stadt im bekannten und seit Jahren in Neuauflagen erfolgreichen Spiel "Sim City".

Doch gerade "Sim City", das die Simulation schon im Namen trägt, zeigt, daß Computerspiele nicht Simulationen im eigentlichen Sinne, also modellhafte Nachbildungen eines Systems durch einen kleineren Ersatz sind. Denn in erster Linie funktionieren Simulationen wie "Sim City" als Spiele, zum Beispiel beim dramaturgischen Aufbau oder bei den von Spieldurchgang zu Spieldurchgang unverändert geltenden Gesetzmäßigkeiten. Dabei behaupten sie aber, daß ihre Gesetze auch in der Realität gelten. Doch das muß nicht stimmen. Strategische oder räumliche Simulationen übernehmen zwar gewisse Gesetze aus der Wirklichkeit, doch längst nicht alle. So sinkt in "Sim City" beispielsweise in der Nähe von Polizeistationen die Kriminalitätsrate automatisch, und Menschen wollen lieber in einem Viertel mit einem großen Verkehrsknotenpunkt wohnen als in einem anderen. Allein schon der Blick von schräg oben auf die Stadt in "Sim City" impliziert eine dem Spiel zugrundeliegende Theorie: Die Welt ist steuerbar. Und sie ist abhängig von jener Person, zu deren Unterhaltung sie existiert. Der Reiz der Simulationen resultiert natürlich auch aus dem Glauben an diese Behauptung, die Gesetze des Spiels würden außerhalb der Spielwelt gelten. Dabei weiß der Spieler, daß ohne zeitliche, räumliche und narrative Schranken Simulationen nicht spielbar und meist auch in ihrer Komplexität nicht zu begreifen oder zu programmieren wären.

Eine frühe und für die von Actionspielen dominierten Arcades erstaunliche Simulation war "Lunar Lander". Dieser 1979 von Atari veröffentlichte Videospielautomat simuliert die Landung des Spaceshuttles auf dem Mond. Der Spieler kann Faktoren wie Drehung und Beschleunigung des Flugkörpers beeinflussen, die Konsequenzen berechnet der Computer.

Klassische Strategie- und Taktiksimulationen wie "Panzergeneral" oder "Command and Conquer" zeigen, daß auch Simulationen ihren Spielern viel Freiheit nehmen können. Beide sind Nullsummenspiele, die im Prinzip nur ein Ende haben dürfen: den absoluten Sieg. Solche Simulationen sind eigentlich noch viel restriktiver als narrative Spiele. Sie bieten zwar im Spielverlauf mehr Handlungsoptionen, laufen aber alle auf ein durch die Eigengesetzlichkeit des Spiels determiniertes Ende zu.

Doch hier ist seit Ende der neunziger Jahre eine neue Entwicklung zu beobachten: Simulationen wie "Civilization 3" oder "Black & White", die Entscheidungen nicht über parallele Erzählstränge zum selben Schluß oder auf eine beschränkte Zahl alternativer Enden hinführen. Im Gegenteil: Diese Simulationen umfassen eine fast unbeschränkte Anzahl alternativer Entwicklungsstränge, die sich zudem ständig verzweigen. Je öfter das Spiel wiederholt wird, desto mehr Spaß macht es, weil der Spieler langsam den Prozeß begreift, der zum Ende führt, ohne ihn aber jemals völlig kontrollieren zu können.

In der vierten großen Traditionslinie der Computerspiele wird ein ähnlich emergenter Prozeß wie in Simulationen durch soziale statt durch technische Faktoren bestimmt. Ähnlich wie klassische Rollenspiele nach Art von "Dungeons & Dragons" waren schon frühe Computerspiele Produkte subkultureller Gemeinschaften und wurden in diesen kollektiv rezipiert und überarbeitet. In der Anfangszeit, den sechziger und frühen siebziger Jahren, lag das noch an der beschränkten Verfügbarkeit von Computern und Videospielautomaten, die entweder an Universitäten oder in den Arcades standen.

Eine der ersten dieser Gemeinschaften waren die Hacker in den frühen Sechzigern, zum Beispiel am "Massachusetts Institute of Technology", wo im Februar 1962 das Computerspiel "Spacewar!" zum ersten Mal lief. Anders als die Spiele in den Arcades, wo soziale Prozesse vor allem als Konkurrenz der Spieler abliefen, waren die Spiele auf den universitären Großrechnern offene Systeme und die sozialen Prozesse durchaus kreativ. Die Spieler verbesserten in Gemeinschaftsproduktion die Programme. Spieler waren damals immer auch Gesetzgeber und somit Schöpfer.

Die Gemeinschaften von Programmierern und Spielern – zu trennen waren die in den sechziger und siebziger Jahren kaum – im physischen, meist universitären Raum wurden in den späten siebziger Jahren in den virtuellen hinein erweitert. Die ersten kollektiven Onlinespiele schufen Verbindungen innerhalb der Subkultur jenseits physischer Grenzen.

Das erste Onlinespiel entstand 1978 an der britischen Universität Essex. Der Name MUD (für Multi-User-Dungeon) bezeichnet heute ein ganzes Genre. Alle Titel – ob graphisch oder textbasiert – haben gemein, daß viele Spieler sich durch dieselbe Spielwelt bewegen und miteinander interagieren können. Im ersten MUD spielten maximal 35 Mitspieler in derselben Version der Spielwelt, in aktuellen Titeln wie "Everquest" sind es mehrere Tausend. Heute schreiben die Spieler durch ihr Handeln die Geschichte der Spielwelt fort, die Speicherkapazität der Großrechner kann jede noch so kleine Veränderung auf Dauer festhalten. Hier lebt die anfangs durch technische Gegebenheiten, aber auch Traditionen des Rollenspiels bedingte kollektive Rezeption fort, aber auch die aus papierbasierten Rollenspielen bekannte gemeinsame Inszenierung der virtuellen Realität durch die Spieler.

Die in Mesquite 1976 so große Angst, durch die Sinnesreize der Spiele würden passive, somnambule Wesen geschaffen, hat sich also als nicht ganz zutreffend erwiesen. Ohne die inszenatorische Kreativität der Spieler gerade in Simulationen, sozialen und narrativen Spielen käme ein Spiel nicht zustande. Diese Traditionslinien verlangen vom Spieler immer die konkrete Inszenierung innerhalb der von den Designern vorgegebenen, sehr weiten Grenzen.

Diese Grenzen zu finden, sich den Gesetzen des Spiels zu unterwerfen, um zu gewinnen, ist ein wesentliches Element des Computerspiels. Ein anderes, scheinbar widersprüchliches Element ist das Brechen ebendieser Gesetze, das Überschreiten der von den Designern gezogenen Grenzen auf der Suche nach etwas wie Transzendenz. Dieses Phänomen umfaßt nicht nur die unzähligen Cracks, Manipulationen und Lösungsanleitungen für jeden neuen Spieltitel, sondern vor allem das Schaffen eigener Spielwelten jenseits der Vorgaben der Designer.

Sogenannte "Mods" – eine Abkürzung für Modifications – sind von Spielern geschaffene neue Räume in kommerziell vertriebenen Spielen. Diese Veränderungen können lediglich die Topographie betreffen, aber auch neue Figuren, Ziele und Spielregeln einführen. Die Spielindustrie toleriert solche Veränderungen in einem gewissen Rahmen, setzt sie zum Teil sogar in eigene Produkte um.

Spiele lehren einen dualen Umgang mit Computertechnologie. Die Maschine erfüllt die Wünsche der Spieler nach immer neuen, stärkeren Sinneseindrücken und verlangt im Gegenzug die Unterwerfung unter ihre Gesetze. Gerade Computerspiele, vor allem die graphisch überwältigenden, schränken die Freiheit der Spieler stark ein. So lustvoll aber sich die Spieler den Gesetzen der Soft- und Hardware unterwerfen – sie denken immer auch das Jenseits mit. Und suchen es. Im nächsten Spiel, einer anderen Inszenierung, einer Modifikation.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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