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US-Armee: Reha-Spiele an der Wii-Konsole (Spiegel Online. 19.7.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

US-Armee

Reha-Spiele an der Wii-Konsole

Im US-Militärhospital Landstuhl lassen Ergotherapeuten Soldaten an Konsolen daddeln: Die Spiele motivieren die Verletzten mehr als Knetkugeln, kaputte Gelenke zu bewegen. Doch trotz erster Erfolge ruht das Projekt – die Chefs eines Patienten mochten es nicht, dass ein Soldat auf Rezept spielt.

Spiegel Online. 19.7.2007

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Sergeant Bryan Vallerie trägt beige, wadenhohe Militärstiefel, Tarnanzug, auf der rechten Schulter die US-Flagge und das Airborne-Abzeichen. Seine Oberarme sind dicker als Baseball-Schläger. Man würde den 30-Jährigen einen Stiernacken nennen – wäre er nicht gerade dabei, einen kleinen Metallring einen kompliziert gebogenen Draht entlang zu navigieren. “Immer nur aus dem Handgelenk bewegen!”, sagt Vallerie und dreht das Drahtgeflecht nach rechts, dann nach vorn und lässt den Metallring wieder dem Ziel entgegen gleiten.

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Vallerie ist der Herr der wundersamen Spielzeuge im Landstuhl Regional Medical Center (LRMC), dem größten US-Militärkrankenhaus außerhalb der Vereinigten Staaten. Der Ergotherapeut hat in seiner Abteilung Murmeleimer, Nagelbretter, Knetkugeln, Hämmer und ploppende Kegel. Das alles steht oder liegt zwischen gewöhnlichen Trainingsmaschinen in einem Wintergarten.

Hämmer und Ringspiele als Therapie-Werzeuge

Mit den Werkzeugen muss Vallerie Soldaten motivieren, das zu tun, was ihnen den größten Schmerz bereitet: Das Handgelenk, das zwei Schrauben zusammenhalten, zu drehen. Den Arm zu heben, den ein Geländewagen zerquetscht hat. Immer wieder, in den Therapie-Stunden, in der Freizeit.

Doch die klassischen Reha-Spiele sind nicht besonders reizvoll für Soldaten, die mit der Playstation aufgewachsen sind: “Unsere bisherigen Therapie-Werkzeuge motivieren nicht jeden Patienten, damit auch in seiner Freizeit zu spielen”, sagt Vallerie. Mit seinem Kollegen Sergant Jason Lord brütete er über dem Problem, vor zwei Monaten hatten sie die Lösung: Videospiele mit der Wii-Konsole. Vallerie und Lord liehen sich die Wii-Konsole eines Kollegen im Krankenhaus und begannen das Training mit einem Freiwilligen: Shawn Roberts.

Laser-Hockey als Bewegungstherapie

Roberts war im April in Kuwait mit einem Geländewagen verunglückt. Die Folgen: Handgelenk und Ellbogen gebrochen, ein Schultermuskel teilweise abgerissen. Nach einem Monat in Landstuhl konnte er mit dem Bewegungstraining beginnen. Er drehte sein mit Schrauben geflicktes Handgelenk beim Minispiel “Laser Hockey” aus dem Wii-Play-Paket, beugte den Ellbogen beim “Tennis”-Spiel aus dem Wii-Sportpaket.

SO NUTZEN ERGOTHERAPEUTEN DIE WII-KONSOLE

Glenrose Rehabilitation Hospital, Kanada
Im kanadischen Edmonton, am Glenrose Rehabilitation Hospital erproben die Ergotherapeuten Don Simoneau und Jonathan Halton die Wii als Therapiewerkzeug. Sie lassen ihre Patienten nicht einfach spielen, sondern leiten sie an, die richtigen Bewegungsabläufe zu trainieren – nicht ruckartig, sondern fließend. Ergebnisse bislang: Die Patienten trainieren motivierter, die Kollegen wollen nun auch die Wii einsetzen.

WakeMed-Krankenhaus, USA
Seit Juni nutzen Ergotherapeuten im WakeMed-Krankenhaus im US-Bundesstaat North Caroline die Wii-Konsole als ein Therapiewerkzeug. Die Therapeutin Karen Ambrose nutzt die Konsole für Unfall- und Parkinson-Patienten. Ihre Erfahrungen mit der Videospiel-Bewegungstherapie fasste sie gegenüber der Lokalzeitung “The News & Observer” so zusammen: “Die Patienten sind gefesselt, und das bedeutet sehr viel. Wenn man sie dazu bekommt, das zu mögen was sie tun, tun sie es.”

Rutgers-Universität, USA
Grigore Burdea, Professor am Institut für Biomedizintechnik der Rutgers-Universität in New Jersey, ist überzeugt davon, dass in fünf Jahren mit heutigen Wii-Titeln vergleichbare Spiele ein Standardinstrument in der Ergotherapie sein werden. So äußerte er sich im Mai bei einem Kongress im kanadischen “Glenrose Rehabilitation Hospital”.

Valleries Fazit des Therapie-Experiments: “Die Spiele fesseln die Patienten und lenken so sehr gut vom Schmerz ab.” Das sei wichtig – der Betroffene soll die Übungen möglichst oft machen.

Spiele auf Rezept gefallen Vorgesetzten nicht

All das hat Patient Roberts auch der US-Militärzeitung “Stars & Stripes” bestätigt. Der Artikel begann dann so: “Shawn Roberts muss Videospiele spielen. Auf ärztliche Anweisung.” Spiele? Als Therapie? “Das hat Roberts Vorgesetzten nicht gefallen”, sagt Lord. Er blickt nach oben, scheint unangenehm berührt. “Nun ja, das hätte auch besser ankommen können.”

Inzwischen ist Roberts wieder in Kuweit. Die Wii-Konsole braucht Valleries Kollege gerade selbst – die Kinder sind zu Besuch. Und Lord und Vallerie wollen nicht mehr allzu offensiv für ihre Games-Therapie werben. Sie suchen einen Weg, “eine Konsole für die Patienten zu bekommen, ohne Ärger zu kriegen”, sagt Lord. Das scheint in der US-Armee gar nicht so einfach zu sein.

Vallerie und Lord sitzen sich gegenüber, an ihrem großen Holztisch und umkreisen das Problem. Sie reden schnell, kommen aber nur langsam zum Kern der Sache. Warum nicht einfach eine Konsole beantragen? Das ist nicht so einfach, auf den Inventarlisten steht die Wii nicht, im Armee-Kaufhaus, dem “Army Airforce Exchange Service” gibt es sie nicht. Eine deutsche Konsole? Geht nicht, da laufen US-Spiele ja nicht.

Und überhaupt: Der offizielle Weg könnte Ärger bringen. “Wir bräuchten Gutachten, wir müssten klären, wer die Konsole repariert”, denkt Vallerie laut. Lord wirft ein: “Unsere Techniker können viel – aber eine Wii reparieren, hmm, vielleicht nicht.” Beide lachen. Eine Spende könnten sie annehmen – aber bitten dürfen sich nicht darum. Das sind die Regeln.

Ist das alles so schwierig, weil Spielkonsolen ein völlig neues Therapie-Werkzeug ist oder weil sie eben vor allem als Spielzeug gelten? “Beides”, sagt Lord. Vallerie sagt: “Von außen sieht das sicher so aus: Die spielen im Krankenhaus!” Gerade, wer keine Erfahrung mit Spielen habe, die Bewegungen bei Wii-Titeln nicht kenne, erkenne die Therapiechancen nicht unbedingt sofort.

Die meisten verwundeten Soldaten sind Videospieler

Das unterscheidet wahrscheinlich die meisten verwundeten Soldaten von älteren Vorgesetzen: Die Mehrheit der Patienten im Militärhospital Landstuhl ist zwischen 19 und 27 Jahren. “Die Generation der Videospieler”, nennt Vallerie sie. Er selbst spielt gern “Civilization”, Lord ist ein Nachtelf der Stufe 20 in “World of Warcraft”.

Landstuhl ist trist. Viele ein- oder zweigeschossige Zweckbauten, eckig, flach, karg, viele wurden in den fünfziger Jahren gebaut. Drei Farben dominieren das Gelände: Das Taxibeige der Baracken außen, das dunkle, gesprenkelte Grau der Linoleumböden und das Weiß der Wände innen. Die Poster auf den Wänden der Flure zeigen, dass man sich Mühe gibt, dem Ganzen ein paar Farbtupfer zu geben. Die ergeben manchmal eine bizarre Mischung. Da klebt ein martialisches Plakat mit einem Soldaten, der mahnt und befiehlt: “Eye Armor! Wear it!”. Ein paar Schritte weiter hängt ein angeblicher Degas-Kunstdruck.

Am Ende eines dieser Gänge warten die Murmeleimer, Nagelbretter und Knetkugeln. Vallerie zeigt auf einen leeren Rolltisch: Da stand die Konsole. Mangels Spielgerät führt er mit seinen herkömmlichen Hilfsmitteln vor, für welche Bewegungsabläufe die Sport-Spiele taugten. Das Handgelenk drehen? Dafür haben die Ergotherapeuten einen mit Klett ummantelten, runden Stab, den Patienten über eine Klettfläche rollen müssen. Mit einer Hand.

Die Arme aus den Schultergelenken seitlich schwingen? Da gibt es auf der Spielkonsole Golf-Titel – in der Ergotherapie einen Hammer zum Schwingen: “Einem Patienten, der gern golft, habe ich mal gesagt, er solle sich dabei vorstellen, dass er Golfschläge übt”, erzählt Vallerie.

Golfen mit einem Hammer

Auch fürs Wahrnehmungs- und Koordinations-Training könnte man Wii-Spiele nutzen, sagt Vallerie. Es gibt Spiele, bei denen man ähnliche Figuren erkennen muss, so eine Art Memory 2.0. Bei solchen Übungen haben die Ergotherapeuten in Landstuhl bislang Puzzle und Bastelmodelle benutzt. Irgendwann einmal – vermutlich, als diese Bausätze als Therapie-Mittel eingeführt wurden – war Modellbau ein Massen-Hobby. Auf den Tischen im Wintergarten stehen viele sauber zusammengebaute Modelle: ein roter Mercedes-Benz 230, etliche Militär-Hubschrauber, Militär-Flugzeuge.

Vor den Modellen der Militärhubschrauber schwärmt Vallerie über die neuen Steuergeräte für die Wii – ein Lenkrad, ein Balancier-Podest und ein Gewehr! “Das könnte ganz neue Möglichkeiten eröffnen”, begeistert sich der Ergotherapeut. Vielleicht denkt er: Wenn ein Gewehr an der Wii hängt, nehmen Nicht-Spieler sie ernster.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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