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Valiumverwandtschaften (Süddeutsche Zeitung, 10.4.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Valiumverwandtschaften

Die Beschaffenheit der Droge: Pharmakonzerne dealen auch

Süddeutsche Zeitung, 10.4.2001

 

Für diesen Satz seien Ulrich Wickert alle Sünden, die er beim Schreiben über den Verlust der Werte beging, verziehen: „Plötzlich saß ich nicht mehr auf dem Boden und glaubte zu schweben“. Schweben. Ein Schweben, wie Steven Soderbergh es uns in seinem Film „Traffic“ fühlen lässt. Diese besondere Geisteshaltung ist die einzige, mit der man sich dem Phänomen Droge nähern kann.

Der Schwebende richtet seinen Blick lange auf die Dinge, bevor er nach Kategorien sucht – wenn er es denn überhaupt tut. So, wie Menschen auf LSD es tun, wenn sie über Stunden die Schönheit einer Wand bestaunen. Soderberghs Film schwebt zwischen Mexiko, Washington und Kalifornien. Statt zu verwirren, schafft das breite Panorama der Ortlosigkeit Erkenntnis: Es gibt keinen Ort für Schmuggler, Gesetzeskämpfer und Drogennutzer. Es gibt keine Grenzen – nicht einmal zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten.

Eine entsprechende Grenzenlosigkeit kennzeichnet den Begriff drug im Amerikanischen. Drug kann sowohl die Droge als auch das Medikament bezeichnen. Wer sich auf Soderberghs Kunst des Schwebens einlässt, wird erfahren, dass der „war on drugs“ im korrupten Mexiko ebenso wie in den sauberen Vereinigten Staaten dieselbe Funktion erfüllt: Marktbereinigung. Und schon ist die Grenze zwischen Zweiter und Erster Welt ist verschwunden.

Schweben wir noch ein wenig weiter mit Ulrich Wickert, der 1968 nach seinem Haschkonsum entspannt zum Vorstellungsgespräch ging, und wir sehen, dass die Funktionen von Droge und Medikament ebenso wenig zu unterscheiden sind. Denn: Statt zu kiffen, kann man heute zur Beruhigung auch ganz legale Beta-Blocker nehmen, welche die Steigerung der Herzfrequenz bei Stress bremsen – ähnlich wie Haschisch.

Bret Easton Ellis hat in seinen Romanen über die späten achtziger und die frühen neunziger Jahre diese Nichtunterscheidbarkeit von Drogen- und Medikamentengebrauch aufgezeigt: Zum Ausruhen Valium, zum Ausgehen Kokain. Valium wird in den Vereinigten Staaten gern genommen. Und verschrieben. Kann ein auf Rezept erhaltenes Medikament überhaupt missbraucht werden? Ist nicht die von Ellis prototypisch beschriebene Nutzung von Psychopharmaka und Drogen eine Anpassung des Körpers an gesellschaftliche Gegebenheiten – also gewissermaßen eine Selbstzüchtung? Hier fehlt schon lange eine Diskussion, wie sie heute über die Genforschung geführt wird.

In den Vereinigten Staaten und Großbritannien wurde im vergangenen Jahr – über 40 Jahre nach Markteinführung – Kritik an dem Medikament Ritalin laut. Ärzte verschreiben das Psychopharmakon vor allem Kindern, die unter Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) oder Hyperaktivitätsstörung (ADHD) leiden. Eltern haben nun eine Sammelklage gegen den Hersteller Novartis angestrengt. Sie werfen dem Konzern vor, er habe an der Definition des Krankheitsbildes eifrig mitgearbeitet, um sein Produkt Ritalin zu verkaufen. Am 16. April entscheidet ein Gericht in San Diego über die Zulassung der Klage.

Auch wenn eine Zulassung fraglich ist – einmal wurde die Klage bereits abgewiesen –, muss Ritalin genauer betrachtet werden. Auf ADHD-Patienten wirkt das eigentlich aufputschende Mittel beruhigend. Wie genau, ist nicht erforscht. Fest steht nur, dass Ritalin den Serotoninspiegel im Gehirn erhöht. Ein erhöhter Serotoninspiegel bringt enorme Glücksgefühle. Deshalb ist Ritalin in den Vereinigten Staaten bei nicht von ADHD Betroffenen als Droge sehr begehrt. In Phoenix müssen sich inzwischen Eltern Entziehungstherapien unterziehen, nachdem sie das Ritalin ihrer Kinder schluckten. Die US-Drogenbehörde DEA hat das Medikament in die selbe Stufe der Bekämpfungsagenda wie Kokain und Methadon aufgenommen. Hier stellt sich die Frage, ob die Gründe, wegen derer Kindern und Erwachsene Ritalin konsumieren, so unterschiedlich sind. Die von der DEA verfolgte Nutzung dient meist dem Aufputschen, um eine Leistung bringen zu können, die dem Körper eigentlich nicht möglich ist. Die Nutzung auf Rezept ermöglicht Kindern, die sonst nicht ruhig sitzen und sich konzentrieren könnten, den erfolgreichen Schulbesuch. Natürlich ist beides nicht gleichzusetzen, aber es ist auch bei Kindern fraglich, ob Ritalin bei ihnen tatsächlich Ursachen – also etwa eine Veränderung der Gehirnchemie – oder nur Symptome bekämpft. ADHD wird in den Vereinigten Staaten häufiger diagnostiziert als in der Restwelt; die Zahl der Ritalinverschreibungen hat sich zwischen 1991 und 1995 verdoppelt. In Großbritannien ist die Zahl der Verschreibungen von 2000 im Jahr 1991 auf 92000 im Vorjahr gestiegen. Weltweit ist der Ritalin-Konsum 1998 laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO in 50 Staaten um 100 Prozent gewachsen. Natürlich liegt das auch an einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber dem Krankheitsbild ADHD. Doch die WHO-Experten mahnen, „mögliche ADHD Überdiagnostizierungen zu verfolgen und exzessiven Gebrauch der Substanz zu zügeln“.

Es besteht momentan eine enorme Nachfrage nach Ritalin, ob sie nun aus einer plötzlich global auftretenden Fehlfunktion der Gehirnchemie resultiert oder aus anderen Gründen. Duncan Keeley vom britischen „Royal College of General Practitioners“ sagt: „Ernsthafte emotionelle Störungen sind extrem verbreitet bei Kindern. Alle Umfragen zeigen dies, und doch wird es oft übersehen. Soziale Dienste für bedürftige Kinder sind verschwunden, die Kindesarmut steigt, ebenso die Zahl der Familientrennungen. All diese Umstände führen gewöhnlich zu Verhaltens-Störungen bei Kindern.“ Ob die Ritalin- Anwendung in dem Fall legitimer ist als bei den working poor in den Vereinigten Staaten, die sich durch eine 80-Stunden Woche kämpfen und nebenbei vielleicht ein Kind mit Lernschwierigkeiten zu versorgen haben, ist gelinde gesagt fraglich.

Neu ist diese Entwicklung nicht. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verschwimmt die ohnehin nie klare Grenze zwischen illegalen Drogen und legalen Medikamenten. Tranquilizer bekämpfen Angst, Spannungszustände, dämpfen Zwangsvorstellungen, helfen bei Stressbewältigung, besänftigen innere Unruhe, mildern Frustration – kurz gesagt: sie entspannen. Und sind wohl deshalb nach Alkohol zur zweiten Volksdroge geworden. In den USA heißt Valium auf der Straße „Mother’s Little Helper“.

Medikamente dieses Typs machen in den Vereinigten Staaten 30 Prozent aller Verschreibungen kontrollierter Substanzen aus. Ein anderer Tranquilizer, das Schmerzmittel Darvon, ist laut DEA regelmäßig für einen der Top Ten Plätze bei Drogentoten verantwortlich. 100 Tonnen Darvon werden jährlich in den USA produziert, 25 Millionen Rezepte ausgestellt. Das liegt nicht nur daran, dass die Medikamente seit den Sechzigern besser und verfügbarer geworden sind – es liegt vor allem daran, dass die Menschen sie brauchen. Valium entspannt: Die Hand-Augen-Koordination verlangsamt sich, ebenso die Reaktionszeit. Der Mensch gewinnt subjektiv Zeit. Ähnliches leistet Cannabis. Wie ausgeprägt das kollektive Bedürfnis nach Glück und Entspannung ist, zeigte der Prozac-Hype in den Vereinigten Staaten Anfang der neunziger Jahre. Dem 1987 zugelassenen Mittel widmeten Magazine wir Time, Fortune, Newsweek Titelgeschichten. Es war und ist hip, Prozac zu nehmen, ein Mittel, das offenbar gegen alles gut ist: Depression, Panik, Sozialphobie, Übergewicht. Und auch hier gibt es einen illegalen Stoff mit ähnlicher Wirkung: Ecstasy. Der Wirkstoff MDMA erhöht, sehr vereinfacht gesagt, genau wie Prozac den Serotoninspiegel. Die Folgen: Glückseligkeit, Offenheit, das Gefühl von Nähe zu anderen Menschen. Deswegen wird in den Vereinigten Staaten Ecstasy auch hug drug genannt. Während die Isolierung des Individuums allgemein beklagt wird, nennt die DEA Ecstasy die am schnellsten sich ausbreitende Droge des Jahres.

Prozac, Valium und Ecstasy kurieren die Folgen des Leistungsdrucks, den andere Medikamente und Drogen wiederum zu bewältigen helfen. Kokain etwa. 13 Millionen Kokainnutzer gibt es laut einem Bericht der Vereinten Nationen in den USA. Dort geht man davon aus, dass anteilsmäßig die meisten Kokainnutzer im Silicon Valley zu finden sind. Die populärste legale Droge zur Leistungssteigerung ist Koffein. In den Vereinigten Staaten konsumiert jeder Bürger im Durchschnitt 210 Milligramm am Tag, in Schweden gar 425. Schon 75 bis 150 Milligramm – der Inhalt von ein bis zwei Tassen Kaffee – bewirken neurale Aktivität in zahlreichen Gehirnpartien. Was genau passiert, ist nicht endgültig zu sagen. Die Folgen sind jedenfalls Wachheit, verbesserte psychische und physische Leistungsfähigkeit, erhöhter Metabolismus. Aber Koffein macht abhängig. Der Körper entwickelt eine Toleranz, was bedeutet, dass eine höhere Dosis für dieselbe Wirkung nötig wird. Ab 350 Milligramm täglich setzt eine physische Abhängigkeit ein. Entzugserscheinungen sind Kopfschmerzen und Gereiztheit. Heute liegt der weltweite Verbrauch bei 120000 Tonnen jährlich. Arbeits- und Entspannungsdrogen gab es immer schon, nur ist in der Moderne durch veränderte Produktionsbedingungen, die enorme Flexibilität und Leistung verlangen, ein neuer Bedarf entstanden. Kaffee oder Kokain zum Arbeiten, Valium oder Xanax zum Entspannen und Prozac zum Glücklichsein.

Die Pharmaindustrie schafft nicht nur neue Mittel, sondern verbessert auch alte: Methadon ist die Antwort auf Opium, Marinol die auf Cannabis. Psychopharmaka sind ebenso wie illegale Substanzen längst unerlässlich für das Fortbestehen gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Was nicht per se schlecht ist. Nur sollte man über Regeln und Definitionen nachdenken: Ist es vertretbar, Kindern im Alter von zwei bis vier Jahren Ritalin zu verabreichen, ihren Eltern aber die Entscheidung, ähnliche Stoffe zu verwenden, abzuerkennen? Im Moment gibt es keinen Missbrauch, allein Gebrauch. Vergessen wir Ulrich Wickerts Bücher über die Tugend und lassen das Wort klingen, mit dem er in die Geschichte eingehen wird: Schwebt!

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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