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Verlassene Kunst (Die Zeit, 18.1.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Verlassene Kunst

Softwarepiraten retten das digitale Erbe

Die Zeit, 18.1.2001

Softwarepiraten sind Mafiatypen, die den armen Kindern von Programmierern das Essen vom Teller stehlen. Vier Milliarden Dollar Schaden richteten sie im Vorjahr an, wenn man den Zahlen des Interessenverbandes Software Business Alliance glaubt. Die Folgen: weniger Investitionen in neue Programme, weniger Support für die alten, weniger von allem. Und hungernde Kinder natürlich.

Bei manchen Softwarepiraten ist das alles allerdings schwer zu glauben. Die vertreiben nämlich Kopien von Programmen, mit denen die Hersteller kein Geld mehr verdienen, für die sie keinen Support mehr anbieten und die man nur noch gebraucht von Privatleuten kaufen kann, weil sie schon lange nicht mehr in den Läden stehen. Seit einigen Jahren kursiert solche Software unter dem Begriff "Abandonware" – sinngemäß: verlassene Software – im Internet. Die New York Times schätzt, dass auf etwa 100 Seiten 1000 alte Programme kostenlos zum Kopieren bereitstehen. Es dürften mehr sein. Denn die Zahl enthält allein bekannte und in Suchmaschinen geführte Seiten. Im Internet Relay Chat existieren eigene Chat-Kanäle für Abandonware, wo Seiten bekannt werden können, ohne dass die breite Öffentlichkeit es erfährt.

Aus juristischer Sicht ist dieses Treiben allerdings nichts anderes als Softwareklau. "Es gibt keinen Unterschied zwischen Abandonware und Piraterie", sagt Diana Piquette, die Antipiraterie-Verantwortliche bei Microsoft in den Vereinigten Staaten. Das geistige Eigentum an Büchern, Musik oder Computercodes bleibt in den USA 75 Jahre lang im Besitz des Urhebers. In Deutschland sind es 70 Jahre, und vor dem Ablauf von 50 Jahren geht nirgends auf der Welt geistiges Eigentum in den öffentlichen Besitz – die public domain – über.

Dennoch ist bei Abandonware eine weitere Perspektive dringend nötig. Ein Buch auf säurefreiem Papier besteht jahrhundertelang. Filmmaterial ist schon viel empfindlicher: Bei besonderer Lagerung hält es vielleicht einige Jahrzehnte. Computerspiele wie Balance of Power oder Space Invaders, dievor weniger als 20 Jahren für den Atari 800 oder den Apple II entstanden, sind heute eigentlich kaum noch spielbar. Zum einen, weil sie lange nicht mehr zu kaufen sind, zum anderen, weil die heutigen Computer einfach zu modern für sie sind. Mit Klassikern der PC-Spiele wie den textbasierten Abenteuern der Zork oder Fahrenheit 451, das Ray Bradbury mitentwickelte, verhält es sich ebenso.

Als Problem wird das erst seit kurzem wahrgenommen. Während die meisten Menschen zu Computerspielen dasselbe Verhältnis wie zu Kaugummi haben, nennt Henry Jenkins, Leiter des Programms für vergleichende Medienwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Computerspiele die "lebendigste Kunstform des 21. Jahrhunderts". Jenkins zufolge werden die Spiele denselben Weg von der Verachtung zur Etablierung gehen wie Film und Jazz.

Kann allerdings Kunst ohne Bewusstsein ihrer Geschichte bestehen? Die heutige Generation der Spielentwickler kennt frühe Spiele meist bestenfalls aus Erzählungen der älteren Kollegen. Vielleicht waren deshalb in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eher eindimensionale, actionorientierte Erzählstrukturen wie in der Tomb Raider-Reihe so weit verbreitet. Das Spielprinzip der schnellen, geschickten Bewegung und des schnellen Schießens ist dasselbe wie bei Spacewar, einem Spiel, das Studenten 1961 am MIT für einen Großrechner programmierten.

Für Computerspiele gibt es keine Archive, nicht einmal größere Privatsammlungen. 1999 gab es den bislang einzigen Versuch einer Ausstellung (www.videotopia.com): Im Maryland Science Museum versammelte die Gruppe Electronic Conservancy, zu deren Beratern die prominentesten Spielentwickler zählen, 75 alte, restaurierte Spielautomaten. Allerdings schrumpft der Marktanteil von Spielautomaten seit einem Jahrzehnt eher, anstatt zu wachsen, und macht gerade ein Achtel des jährlichen Gesamtspielausstoßes für PCs, Konsolen und Spielhallen aus.

Neben diesen vereinzelten Versuchen sorgen allein die illegalen Internet-Seiten mit Abandonware für die Bewahrung des Erbes. Hier sind meist Zusatzprogramme zu finden, die antike Spielesoftware auf modernen Rechnern laufen lassen. Richard Carlson, Spielentwickler bei der Firma Rouge Entertainment, sagt: "Computerspiele zu konservieren hat nichts mit Sentimentalität, Sammlerwut oder einem Retrotrend zu tun. Es geht um Kunstgeschichte – Erzählstrukturen, Musik, Animation, Programmierung, Leveldesign und alle anderen Disziplinen der klassischen Spielentwicklung."

Wer Abandonware als Begriff zur Verschleierung von Piraterie abtut, sollte sich vielleicht die Geschichte von Friedrich Wilhelm Murnaus Film Nosferatu ansehen. Nach der Uraufführung 1922 klagte die Witwe des Schriftstellers Bram Stoker, auf dessen Roman das Drehbuch beruhte, auf die Durchsetzung ihrer Rechte an dem Werk. 1924 entschied ein Berliner Gericht, die Rechtsnachfolger der Produktionsfirma müssten entweder 5000 Pfund zur Abgeltung der Rechte zahlen oder Negative und Positive des Films vernichten. Die Firma wollte nicht zahlen – wozu auch alte Filme konservieren, wenn mit neuen Geld zu verdienen ist -, und so blieb Nosferatu nur durch Verstöße gegen das Urheberrecht der Nachwelt erhalten.

Das Problem der Archivierung von Computerspielen könnte entweder durch eine Stiftung der Hersteller, eine Privatsammlung oder eine Änderung des Urheberrechts angegangen werden. Wenn es stimmt, dass ein Erdenjahr acht Jahren in der Informationstechnologie enspricht, dann bedeuten 75 Jahre Besitz am geistigen Eigentum sechs Jahrhunderte in der schnellebigen Computerbranche.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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