Von wegen rechtsfreier Raum (Frankfurter Rundschau, 22.04.2002)
Von wegen rechtsfreier Raum
Einfache Hinweise, Abmahnungen, Gerichtsverfahren: Juristen bekämpfen erfolgreich unliebsame Web-Seite
Frankfurter Rundschau, 22.04.2002
In wenigen Tagen hat es die Rechtsabteilung der Deutschen Bahn geschafft, Sabotage-Anleitungen auf niederländischen Internet-Rechnern und aus Suchmaschinen löschen zu lassen.
Eineinhalb Jahre lang hatte der Generalbundesanwalt versucht, den Zugang zu den Internet-Seiten der linken Zeitschrift Radikal für deutsche Nutzer zu sperren. Vergeblich. 1998 wurde das Verfahren wegen "Beihilfe zum Werben für terroristische Vereinigungen" gegen Provider mit Sitz in Deutschland wie AOL oder T-Online eingestellt. Die Surfer konnten weiter auf den beim niederländischen Provider XS4All ("Zugang für alle") gespeicherten Seiten beispielsweise den "Kleinen Leitfaden zur Behinderung von Bahntransporten aller Art" lesen.
Das ist vorbei: In sieben Tagen hat die Deutsche Bahn erreicht, dass die Seiten gelöscht wurden. Ein Amsterdamer Gericht hat in ihrem Sinne entschieden. Die Bahn mahnte außerdem Suchmaschinen wegen Verweisen zu den Seiten ab. Auch hier mit Erfolg: Seit Donnerstag hat etwa Google die Seiten aus Index und Archiv entfernt.
Der Fall Radikal ist beispielhaft für die Träume vom Internet als freiem, nicht- reguliertem Forum – und deren Aus. Radikal war 1976 als "Sozialistische Zeitung für Westberlin" entstanden. Das Blatt verband eine theoretische Diskussion linksextremer Positionen mit der Mobilisierung der Leser zu "Aktionen". Die Bundesanwaltschaft ging immer wieder gegen das Blatt vor. Die Deutsche Bahn ist in den Fall einbezogen, seit im Juni 1996 in Radikal eine Anleitung zur Sabotage von Oberleitungen und anderen technischen Einrichtungen an Bahnanlagen erschien.
Die Verteidiger der Zeitschrift verwiesen und verweisen auf die Meinungsfreiheit. Im Jahr 1997 solidarisierten sich unter anderem der Hamburger Professor für Öffentliches Recht, Norman Paech, und der Politik-Professor Bodo Zeuner vom Berliner Otto-Suhr-Institut. Gemeinsam mit der Fachgruppe Journalismus der damaligen Industriegewerkschaft Medien und mit anderen Verbänden unterzeichneten sie einen Text im Heft "Radikal – Dokumentation kriminalisierter Texte". Darin heißt es: "Man muss kein Freund der in der Radikal veröffentlichten Beiträge sein, um ihr Recht auf Erscheinen uneingeschränkt zu bejahen."
Die Kritiker hofften auf eine technisch garantierte radikale Meinungsfreiheit im Internet. So sagte Andy Müller-Maguhn vom Chaos-Computer-Club im Jahr 1997 zur Diskussion über Radikal: "Eine effektive rechtliche nationalstaatliche Kontrolle des Internet ist dagegen schlussendlich nicht möglich." Das erinnert an die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" des Netz-Visionärs John Perry Barlow von 1996: "Wir werden uns über den Planeten verbreiten, so dass niemand uns oder unsere Gedanken einsperren kann", schrieb Barlow. Die Hoffnungen auf eine dank der technischen Gegebenheiten in alle Ewigkeit gesicherte freie Welt trafen nicht zu – das zeigt der Fall Radikal.
Am 30. August 1996 forderte die Bundesanwaltschaft zum ersten Mal die im Interessenverband Eco zusammengeschlossenen deutschen Provider auf, die fraglichen Seiten zu sperren. In vorauseilendem Gehorsam blockierte im April 1997 das Deutsche Forschungsnetz (DFN) für kurze Zeit den Zugang zu allen 6000 bei XS4All gespeicherten Angeboten. Im darauf folgenden Juni machte die PDS- Politikerin Angela Marquardt im Zusammenhang mit Radikal Schlagzeilen. Sie hatte auf ihren Webseiten einen Verweis zu der Online-Ausgabe der Zeitschrift gesetzt – und musste sich dafür vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten. Am 30. Juni 1997 kam der Freispruch. Aber nur, weil nicht zu klären war, ob sich strafbare Inhalte auf dem niederländischen Server befanden, als Marquardt den Link setzte.
Ein rechtsfreier Raum war das Netz also nie. Es gibt weitere Anhaltspunkte. Schon Mitte der neunziger Jahre hat Scientology über eine Klage in Finnland erreicht, dass die echten Absendernamen hinter anonymisierten E-Mail-Adressen herausgegeben wurden. In dem Irrglauben, die Technik einer finnischen Zwischenstation würde ihre Identität schützen, hatten ehemalige Scientologen in öffentlichen Netz-Foren ihre Erfahrungen geschildert.
In China registrierte die Polizei 1996 alle 40 000 Internet-Nutzer. Die 1997 formulierte "Great Cyberwall"-Strategie eines totalen Informations-Schutzwalls um das Land musste China zwar inzwischen aufgeben. Doch sie wurde laut dem Bericht "Enemies of the Internet" der Organisation "Reporter ohne Grenzen" mit avancierteren Methoden ersetzt. Man macht die Betreiber von Internet-Cafés für die Nutzung ihrer Kunden verantwortlich – und setzt auch sonst auf die indirekt gesteuerte Selbstzensur von Betreibern.
Trotzdem hielt sich der Mythos vom Netz als unkontrollierbarem Raum lange Zeit. Noch im Dezember 1999 schrieb beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das Internet sei nicht zu regulieren und "die Ubiquität des Netzes" spotte "nationaler Kontrollsysteme". Das dürfte nun endgültig widerlegt sein.
Am 8. April forderte die Deutsche Bahn XS4All auf, die Radikal-Seite mit der Sabotage-Anleitung von ihren Servern zu löschen. Am 15. April – fünf Tage nach der Klage des Unternehmens – entschied ein Amsterdamer Gericht, das Material sei auch nach niederländischem Recht illegal; XS4All müsse es daher löschen.
Bereits am 5. April hat Bahn-Justiziar Christian Schreyer an Google eine E-Mail mit der Aufforderung geschickt, die Verweise zu der Seite bei XS4All aus dem Index der Suchmaschine zu entfernen und außerdem die gespeicherte Archiv- Version zu löschen. Dem folgte eine Abmahnung. Google bestätigte, dass der Forderung der Bahn am Donnerstag entsprochen wurde. Die Suchmaschine Altavista hat ebenfalls am gleichen Tag die Seite aus ihrem Index entfernt. Eine Sprecherin sagt: "Das Unternehmen ist immer bestrebt, solchen Hinweisen Rechnung zu tragen." Dazu war also nicht einmal eine Abmahnung nötig. Laut Altavista habe man auf einen Hinweis der Bahn reagiert.
Bei Yahoo scheint der Fall anders gelagert zu sein. Dort geht es um eine andere Sabotage-Anleitung mit dem Titel "Korrektiv zur radioaktiven Oberleitung", die bis Freitag auf einem Server der US-amerikanischen Yahoo-Tochter Geocities gespeichert war. Über Suchworte wie "Hakenkralle" und "Achszähler" soll die Seite laut Bahn-Justiziar Schreyer vom deutschen Yahoo-Portal aus erreichbar gewesen sein – was die Frankfurter Rundschau allerdings nicht nachvollziehen konnte. Ein Yahoo-Sprecher sagt, man kommentiere solche laufenden Vorgänge prinzipiell nicht.
Zuvor hatte das Internet-Unternehmen noch bestritten, eine Abmahnung oder Benachrichtigung der Deutschen Bahn erhalten zu haben. Laut deren Justiziar Schreyer ist sie am 15. April sowohl per Fax als auch per E-Mail an die deutsche und amerikanische Niederlassung gegangen. Schreyer sagt, die Bahn hätte gegebenenfalls in Deutschland sowohl gegen die deutsche Yahoo-Tochter als auch gegen die amerikanische Mutter geklagt.
Vor ein amerikanisches Gericht wäre man nicht gezogen. Vermutlich, weil dort die Inhalte unter den Schutz der freien Meinungsäußerung fallen. Auch gegen die jetzt im Internet vermehrt auftauchenden Kopien der Radikal-Seiten will die Bahn nicht unbedingt vorgehen. "Wir prüfen das", sagt Schreyer. Aber bei Angeboten auf Rechnern im Ausland, besonders in den Vereinigten Staaten, könnte das "eine sinnlose Sache" sein.
Dennoch zeigt der Fall, wie Inseln im Netz entstehen können. Die Amsterdamer Richter beriefen sich in ihrer Entscheidung auf die europäische E-Commerce- Richtlinie, die eine Haftung von Providern ausschließt, solange sie keine Kenntnis von illegalen Inhalten haben. Der Zugang zu den in den USA entstehenden Spiegelungen könnte unter Umständen von der Deutschen Bahn ebenso eingeschränkt werden wie der zu den niederländischen Seiten. Zumindest Anbieter von Suchmaschinen, Homepage-Speicherplatz und Internet-Zugängen mit Sitz in Deutschland dürften juristisch leicht angreifbar sein.