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Vorsicht, Wackelkontakt! - Retro-Computerspiele liegen voll im Trend (Tagesspiegel, 19.12.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Vorsicht, Wackelkontakt!

Retro-Computerspiele liegen voll im Trend: Eine Anleitung für Zeitreisen in die Welt der Achtziger, Ataris und 486-Rechner 

Tagesspiegel, 19.12.2002

Die Spielezeitschriften werden dicker, die Vertriebschefs hektischer und die Spieler sind so unersättlich nach neuen Computerspielen wie jedes Jahr. Das Weihnachtsgeschäft läuft. Etwa die Hälfte seines Umsatzes macht zum Beispiel der Branchenriese Electronic Arts in dieser Zeit. Gut 100 Neuerscheinungen vermarktet derzeit allein dieses Unternehmen. Doch der Neuigkeitsrausch passt nicht ganz zur Nostalgiewelle, die in diesem Jahr auch die Computerspieler erfasst hat. Was vor zwei Jahren das Buch „Generation Golf“ für das Gros der in den Achtzigern Aufgewachsenen bedeutete, war in diesem Jahr „Wir waren Space-Invaders“ für die Gamer: Die Autoren definieren darin ihre Jugendkultur über die Spiele jener Epoche. Zeit also für etwas Besinnlichkeit und die Highlights der vergangenen Jahre.

Diese Zeitreise ist nicht einmal teuer. Die größten Erfolge der Vorjahressaison waren mit jeweils mehr als 200000 verkauften Exemplaren die Echtzeit-Strategiespiele „Stronghold“ und „Empire Earth“. Heute kosten sie neu 31 beziehungsweise gar nur 16 Euro. Genauso viel zahlt man derzeit im Durchschnitt bei Ebay-Auktionen für eine Kopie des Spiels „Zak McKracken“ in Originalverpackung. Es ist im Jahr 1988 erschienen. Die neuesten Titel sind nicht immer die wertvollsten. Nostalgisches Spielen kostet nicht viel Geld, ist aber auch nicht umsonst. Die Software kann man relativ günstig bei Internetauktionshäusern ersteigern. Es gibt auch viele Internetseiten, die alte Spiele zum Download anbieten (ein Katalog). Die dort angebotenen Titel sind juristisch gesehen allerdings Raubkopien. Denn selbst wenn sie nicht mehr verkauft werden, ist eine solche Verbreitung nicht per se legal.

Geld müssen Retrogamer wenig investeiren, dafür aber umso mehr Zeit. Denn alte Software verträgt sich nicht immer mit neuer Hardware. Das gilt sogar für PC-Spiele. Und das gilt sogar für manche vergleichsweise junge Titel, die für Windows 95/98 geschrieben wurden. Ihnen – zum Beispiel Anno 1604 – helfen erst kostenlose Erweiterungen auf die Sprünge, die man meist von den Herstellerseiten kostenlos herunterladen kann.

Schwieriger ist es, Spiele wie „Ultima VII“ von 1992 zum Laufen zu bekommen. Hier haben die Hersteller kein Interesse an nachträglichem Support, weil die Titel längst nicht mehr im Handel verkauft werden. „Ultima VII“ ist nicht nur ein Klassiker des Rollenspiels, sondern auch einer der Zukunftsuntauglichkeit. Andere Spiele wie das Grafikadventure „Monkey Island 2“ laufen unter Windows XP und brauchen nur bei manchen Konfigurationen für Klang und Musik etwas Unterstützung durch Hilfsprogramme wie das kostenlose VDMSound. Bei „Ultima VII“ ist jedoch das Speichermanagment so eigen, dass die Software unter keiner neuen Windows-Version läuft.

In solchen Fällen kann man für wenige Euro – oft weniger als eine Lösung mit Bootmanagern wie „OS Selector“ kostet – einen gebrauchten 486-Rechner samt DOS-Betriebssystem (ein kostenloses) ersteigern. Oder man hofft auf den Enthusiasmus einiger Spieler. Manchmal zurecht: Vor wenige Wochen veröffentlichte eine Programmierergruppe mit Mitgliedern in Kanada, den Niederlanden, Australien, England und Deutschland das Programm Exult. Es funktioniert als Übersetzer zwischen den Bildern, Klängen, Dialogen und geskripteten Ereignissen in „Ultima VII“ und jedem modernen Betriebssystem. Ähnliches wie „Exult“ für „Ultima VII“ leistet die Software „ScummVM“ für viele der legendären Lucasarts-Adventures.

Will man in der Zeit noch weiter zurückreisen, bis damals, als auf PCs kaum jemand und auf Heimcomputern fast jeder spielte, steht man erstaunlicherweise vor geringeren Schwierigkeiten. Denn die Anzahl leistungsfähiger Emulatoren für moderne System ist hier schon fast zu groß. Ein komfortabler C 64-Emulator für neue Windowsversionen ist zum Beispiel Vice. Wer seine alten Originalprogramme – ehrlicher: Spiele wie „Giana Sisters“ – nicht mühsam auf den PC transferieren will, kann entsprechende Roms auf Seiten wie www.c64.com laden. Für den „Amiga 500“ leistet Winuae, Spiele finden sich zum Beispiel bei www.back2roots.org. Hier muss man nicht einmal die Originale besitzen, weil alle kommerziellen Titel lizenziert wurden. Den Spielheimcomputer – für kurze Zeit – schlechthin, den Atari ST emuliert auf Windows-PCs das Programm Saint. Software findet, wer sich den Transfer sparen will, zum Beispiel auf www.atari.st. Sogar die Geschichte der Videospielautomaten ist auf Windows-PCs in Ansätzen verfügbar, der Emulator Mame32 macht sie spielbar.

All das auf einem aktuellen PC zum Funktionieren zu bringen, kostet Mühe und viel Zeit – weit weniger allerdings als das Spielen danach. Und manchen wird das Basteln an jene Zeit erinnern, als man mit Tie Fightern um Transporter und mit DOS um jedes Byte EMS-Speicher kämpfte. Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist und zu den Spielen der 80er Jahre noch auf die Schnelle das passende Abspielgerät sucht: bei Saturn gibt es diese Apparate nicht mehr. Beim Internet-Auktionshaus eBay finden sich zurzeit rund zwei Dutzend Atari-Spielecomputer, viele aus Wohnungsauflösungen und meistens ohne Wackelkontakt. Der 800 XL, ST 260, 1040 ST – Kenner schnalzen hier mit der Zunge. Startgebot für die Homecomputer: jeweils um die fünf Euro. Retrozeit – leider keine Retropreise. Die gehen im Laufe der Auktion nach oben.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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