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Warum wir Avatare spielen

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Das Buch “Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt“ von Konrad Lischka und Tom Hillenbrand ist ein Crowdfunding-Projekt. Wenn genug Unterstützer zusammenkommen, wird ein prächtiges Buch mit vielen Illustrationen aus 40 Jahren Rollenspielgeschichte gestaltet und gedruckt. Unterstützen und vorbestellen lässt es sich auf Startnext: http://www.startnext.de/drachenvaeter

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Das ist schon eine eigenartige Idee, dass man in einem Spiel mit einer ausgedachten Figur in einer ausgedachten Welt nach festen Regeln Abenteuer erlebt. Dass man so tut, als sei man dort. Dass man so handelt, als sei man ein anderer und in jedem neuen Spielen wieder dieser eine ganz bestimmte andere sein will. So funktioniert heute die Mehrheit der Computer- und Videospiele. Fest und wachsende Spielercharakter, virtuelle Welt und Simulation nach klaren Regen – das macht „World of Warcraft“, aber auch „GTA V“ aus.

Dieses Spielkonzept stammt aber nicht aus Computerspielen, es geht auf die „Dungeons & Dragons“ (D&D) zurück, ein so genanntes Pen&Paper-Rollenspiel. Es ist höchste Zeit, sich die Geschichte dieser Spiele genauer anzuschauen, denn ohne sie würden Computerspiele und viele Online-Dienste heute ganz anders aussehen.

D&D erschien 1974 und war der Beginn einer Industrie mit mehren Hundert Spielsystemen. Diese heute etwas in Vergessenheit geratenen Spiele waren völlig analog: Ein paar Leute saßen an einem Tisch, der Spielleiter war ihr Computer. Er erzählte das Spiel, er guckte auf die Regeln. Jeder Spieler verkörperte einen Charakter, sprach als er oder sie, sprang, kämpfte oder schwamm durch die Gegen. Der Spielcharakter existierte auf einem Blatt Papier mit vielen Zahlen, Würfel und Regelbücher entschieden, ob ein Spieler mit seinen Handlungen erfolgreich war oder nicht. Schafft er einen waghalsigen Sprung? Das hängt von seinem Geschick ab (steht im Charakterbogen), von den Wahrscheinlichkeiten (steht im Regelbuch) und ein wenig auch vom Glück (der Würfel).

So spielten Mitte der siebziger Jahre ein paar Nerds bei Chicago Abenteuer in virtuellen Welten, bevor ihr D&D als Produkt die Universitäten in Amerika und Europa erreichte. Die Computerspiele zu dieser Zeit sahen völlig anders aus. An der erste Heimkonsole spielte man 1972 Tennis, Tischtennis oder Hockey. Am ersten Arcade-Spielautomaten „Computer Space“ schoss man sich 1971 durchs Weltall.

Erst nachdem „Dungeons & Dragons“ 1974 auf den Markt kam, entwarfen Studenten an Unis (anderswo gab es kaum Computer) massenhaft völlig andere Spiele: In Pedit4, dnd, orthanc, Adventure und anderen ganz frühen Computerspiele streift der Spieler mit einem Avatar durch Verliese und Höhlen. 1978 erscheinen die beiden ersten Onlinespiele überhaupt, das amerikanische „Scepter of Goth“ und das britische „MUD“. In beiden durchstreifen mehrere Spieler dieselbe Welt voller Magie, Monster und Schätze. Sie spielen Diebe, Krieger oder Paladine.

Diese frühen Computerspiele sind direkt von D&D beeinflusst. Man erkennt es an Namen wie dnd und am Design. Bei „MUD“ und „Scepter of Goth“ waren mehrere Spieler zusammen in derselben Spielwelt unterwegs, ähnlich wie bei „World of Warcraft“ heute. Woher kam diese Idee 1978 wohl? Zu einer Zeit, da es kaum Computerspiele gab? Natürlich aus den D&D-Rollenspielrunden. Da hatten die erste Generation der Gamedesigner erlebt, wie großartig es sein kann, mit mehreren Menschen gemeinsam dieselbe virtuelle Realität zu erleben. Bei „Scepter of Goth“ konnten sich Ende der Siebziger bis zu 16 Spieler gleichzeitig in einer Instanz spielen, sie müssen sich dazu bei einem der Rechner einwählen, auf denen das Spiel lief. Rollenspiele sind soziale Spiele und deswegen liefen schon im Internet-Vorläufer Arpanet Online-Rollenspiele – US-Studenten wählten sich beim britischen MUD ein. Heute haben selbst Egoshooter wie „Destiny“ Level-, Party- und Fertigkeitssysteme.

Mehrere Generationen von Computerspiel-Designern sind mit Pen&Paper-Rollenspielen groß geworden. Sie haben viele digitale Spielmechanismen aus den analogen Regelbüchern übernommen. Zwei Beispiele:

Erfahrungspunkte: In D&D war Spielercharakteren eine klare Laufbahn vorgegeben. Wer Abenteuer absolviert, wird vom Spielleiter mit Punkten belohnt. Hat man genug Punkte beiammen, steigt die Figur eine Stufe auf und wird mächtiger. Ein Kämpfer richtet mehr Schaden  bei Angriffen an, ein Magier kann sich mehr Zauber merken. Diese Punkte-und-Stufen-Mechanik haben heute selbst die banalsten Facebook-Spiele wie „Bubblewitch Saga“ oder „Farmville“, aber auch Online-Dienste wie Foursquare und Fitbit. Seit ein paar Jahren nennen Experten für sogenannte Gamification (Menschen durch Spielmechanismen zu bestimmten Verhalten bringen), „World of Warcraft“ als das Beispiel schlechthin für solche Aufstiegssysteme. Schwachsinn: Das kommt aus D&D.

Schadenspunkte: Vor „Dungeons & Dragons“ erspielte man sich Highscores und ein paar zusätzliche Spielminuten am Arcade-Automaten. Die Raumschiffe hatten Leben, Trefferpunkte gab es nicht. Das kam mit D&D: Angriffe mit Waffen und Stürze verursachen eine quantifizierte Schadensmenge. Die Figur ist nicht sofort verloren, sie kann etwas einstecken. Computerspiele wurden dadurch komplexer: „Doom“ spielt man anders als frühe Actiontitel wie „Ghosts’n’Goblins“ oder „Pac-Man“. Man wägt ab, wie viel die Figur noch einstecken kann, wie schnell man weiterkommt, ob man jetzt schon einen Verbandskasten einsetzten soll. Durch Trefferpunkte werden Egoshooter taktischer.

Schaut man sich die Geschichte der Pen&Paper-Rollenspiele genauer an, tauchen viele solcher Verbindungen auf. Die D&D-Erfindern haben 1974 Entwicklungen bei Gesellschaftsspielen und aus der Literatur zu einem völlig neuen Spielprinzip verwoben. Ihre Einflüsse gehen bis ins Preußen des 19. Jahrhunderts und die Pulp-Magazine der 1920er Jahre zurück und ihr Einfluss ist heute noch größer als in den Neunzigern. Heute nutzen viel mehr Menschen Online-Dienste und Spiele, in denen die Spielmechanismen von Pen&Paper-Rollenspielen weiterleben. Noch nie war das Publikum so groß, auch wenn kaum einer von ihnen heute etwas über den Ursprung von Levelsystemen, Hit-Point und der merkwürdigen Ideen geteilter virtueller Welten weiß.

Das Buch “Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt“ von Konrad Lischka und Tom Hillenbrand ist ein Crowdfunding-Projekt. Wenn genug Unterstützer zusammenkommen, wird ein prächtiges Buch mit vielen Illustrationen aus 40 Jahren Rollenspielgeschichte gestaltet und gedruckt. Unterstützen und vorbestellen lässt es sich auf Startnext: http://www.startnext.de/drachenvaeter

(Der Text erschien zuerst bei den Ruhrbaronen)

 

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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