Zum Inhalt springen

Wasserbetten nur für Volljährige (Berliner Zeitung, 27.09.2000)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Wasserbetten nur für Volljährige

US-Bürgerrechtsgruppen warnen vor technisch unausgereifter Filtertechnologie im Internet – doch die wahre Gefahr droht gerade bei technischer Perfektion.

Berliner Zeitung, 27.09.2000

Sherril Babcock mag ihren Namen. Einige Computer aber nicht. Als die Anwältin aus Los Angeles sich beim Online-Dienst Blackplanet.com registrieren wollte, hieß es lapidar, ihr Nachname sei „nicht akzeptabel“. Blackplanet.com setzt Filtersoftware ein, um „anstößige“ Inhalte zu blockieren. An Babcocks Namen stört sich niemand – außer dem Filter, der den Begriff „cock“ (englisch für Schwanz) darin erkennt.

Bürgerrechtsgruppen in den USA laufen Sturm gegen solche Filtersoftware im Internet. Organisation Digital Freedom Network hat als Protest den „Foil the Filters“ Wettbewerb ausgeschrieben. Bis zum Montag konnten Benutzer Fehlurteile von Filterprogrammen einschicken. Heute werden die Preise verliehen: Eine Mütze des britischen Städtchens Scunthorpe, ein Buch von Emily Dickinson und ein Souvenir aus Linz.

Für Antifilter-Aktivisten sind die Preise alles andere als seltsam: Ein Bewohner von Scunthorpe beschwerte sich bei der DFN, seine eMails würden oft blockiert. Grund: Filter erkennen im Ortnamen „cunt“ (Gegenstück zu „cock“). Bei Schriftstellerin Emily Dickinson stören sich manche Filter am vermeintlichen „dick“ (Synonym für „cock“).

Mark Rotenberg von der US-Bürgerrechtsorganisation Electronic Privacy Information Center betont: „Die Menschen denken bei Filtern nur an Sexseiten, dabei wird alles mögliche zensiert. In manchen Bibliotheken erhält man keine Informationen über Bücher von Anne Sexton“.

In der Tat versagen manche Filter bedenklich. Der amerikanische Internetprovider FamilyClick verwendet I-Gear von Symantec. Bürgerrechtsaktivist Bennett Haselton veröffentlicht auf der seiner Website Peacefire.org von FamilyClick blockierte Seiten. Beispiele: ein Bericht der Pekinger US-Botschaft über das AIDS-Problem in China, ein Artikel über die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich, ein Essay zur Reaktion Israels auf den Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972.

Eine anderer Test Bennett Haseltons ergab für den Filter Surfwatch eine theoretische Fehlerquote von 82 Prozent. Unter den blockierten Domains fand sich unter anderem ein Anbieter von Wasserbetten und eine Kosmetikfirma, die betont, in „christlichem Besitz“ zu sein.

Noch schlechter schnitt die Software BAIR bei Tests des US-Computermagazins Wired ab. Laut Hersteller Exotrope soll das Programm Bilder mit sexuellen Inhalten erkennen. Bei Wired hingegen blockierte das Programm Fotos von Snoopy, Booten, Sonnenuntergängen, Hunden und sogar der Wired Nachrichtenredaktion. Als unbedenklich für Minderjährige wurden hingegen Aufnahmen von Gruppensex eingestuft.

Das mögen technische Kinderkrankheiten sein, doch sind sie einmal gelöst stellt sich immer noch die Frage: Was soll eigentlich gefiltert werden? Und vor allem: Wer darf das bestimmen?

In zahlreichen Staaten blockieren Filterprogramme gezielt politische Inhalte. In Saudi-Arabien beispielsweise den Zugang den sogenannten Yahoo-Clubs, einer Art Diskussionsforum. Angeblich wegen pornographischer Inhalte. Weltweit schränken 45 Staaten laut einem Bericht der Organisation Freedom House den Internetzugang ein.

Auch das Engagement privater Unternehmen wie Bertelsmann im Bereich Filtertechnik muss nicht zwangsläufig uneigennützig sein. Darauf wies Andy Müller-Maguhn, Sprecher des Chaos Computer Clubs, in einem Interview mit dem Netzmagazin telepolis hin: „Ich habe keinen Zweifel, dass man hier ein aus wirtschaftlichen Kontrollgelüsten motiviertes Filtersystem mit der Argumentation ‚zum Wohle der Gesellschaft’ der Politik schmackhaft machen will.“ Abseits von Verschwörungstheorien führen die Auseinandersetzungen um Napster und DeCSS vor Augen, welche Interessen Medienkonzerne an Filtersoftware haben könnten.

Ende April berichtete der angesehen Publizist Brian Livingston, die von AOL eingesetzte Software Cyber Patrol würde nach politischen Vorlieben filtern. So sei im „Kids only“ Modus der Zugriff im aufs Republican National Comitee möglich, der aufs Democratic National Comitee hingegen verwehrt. „Young Teens“ könnten zwar auf die Seiten von Waffenherstellern und der National Rifle Association zurückgreifen, die Angebote der Initiativen „Stop Gun Violence“ und „Safer Guns“ seien hingegen gesperrt.

Diese Entwicklungen zeigen, dass das blindes Vertrauen auf Technik der falsche Weg ist. Rechtsprofessor Lawrence Lessing warnt in seinem Buch „Code“, dass das Internet zu einem enormen Kontrollsystem werden könnte, wenn solches Vorgehen sorgfältige Gesetzgebungsprozesse ersetzt.

Technik liefert nicht Antworten auf gesellschaftliche Fragen. Die 65,4 Prozent der 14 bis 17jährigen, die laut einer aktuellen Emnid-Unfrage nichts mit dem Begriff „Holocaust“ anzufangen wissen, haben das gewiss nicht fehlender Zensur im Internet zu verdanken.

Während eines Prozesses um Naziinhalte kritisierte Philippe Guillaton, CEO von Yahoo France das bloße Vertrauen auf Filter: „Stellen sie sich vor, wir könnten umsetzten, was hier von uns verlangt wird. Dann kämen morgen Richter aus jedem Land der Welt zum einem Anbieter und würde verlangen, er soll dies und jenes löschen, weil es in ihrem Land nicht zu akzeptieren sei. So funktioniert das Netz nicht. Es basiert auf dem Verantwortungsbewusstsein der Nutzer.“

Der Vorsitzende des Komitees für Cyberrecht der US-Anwaltskammer sieht eine internationale Körperschaft, die einheitliche, globale Prinzipien für Internet-Rechtssprechung festsetzt als einzige Lösung: „Es ist, als wären wir auf dem Mars gelandet. Wir müssen neue Regeln etablieren und die Leute daran gewöhnen, nach ihnen zu handeln.“

Etwas Zeit bleibt noch, denn Filtertechnik ist alles andere als perfekt. Sherril Babcock konnte sich letzten Endes doch bei Blackplanet.com registrieren – und dem Alias „Babpenis“.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert