Zum Inhalt springen

Web-Phänomen 25 Things: Gaga-Kettenbrief wütet auf Facebook (Spiegel Online, 14.2.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Web-Phänomen 25 Things

Gaga-Kettenbrief wütet auf Facebook

Privat, peinlich, pikant: Millionen Facebook-Nutzer veröffentlichen Listen mit 25 Anekdoten über sich selbst auf ihren Profilseiten und fordern von Freunden dasselbe. Die Plauder-Epidemie verbreitet sich rasant – 25 Gedanken über das merkwürdige 25-Fakten-Phänomen.

Spiegel Online, 14.2.2009

Menschen lieben Listen und Kettenbriefe. Eine hochansteckende Kreuzung von beidem sucht gerade Facebook heim – Millionen von US-Facebook-Mitglieder veröffentlichen Listen mit 25 Peinlichkeiten aus ihrem Leben, weil ein Kettenbrief das so verlangt. SPIEGEL ONLINE erzählt die Geschichte des absurden 25-Fakte-Mems in 25 Absätzen.


1. Facebook-Managerin Jamie Schopflin Hall ist in ihrem ersten Uni-Jahr verhaftet worden, weil sie mit 150 Stundenkilometern durch die Gegend raste.

2. Die PR-Managerin des Menschel-Netzwerks plaudert solche persönlichen Anekdoten auf ihrem Facebook-Profil vor mehreren hundert Menschen aus. Die Raser-Geschichte ist ein Punkt in einer Liste mit 25 ähnlich privaten Geschichten – es geht um Zahnspangen, fiese Streiche gegen die kleine Schwester und das erste Date.

3. Die Liste trägt den Titel “25 Random Things About Me” – zu deutsch in etwa: “25 willkürlich ausgewählte Tatsachen über mich.”

4. Seit Wochen tippen Millionen von Facebook-Mitgliedern solche Listen, veröffentlichen sie als Notiz in ihren Profilen und fordern dann Facebook-Freunde auf, dasselbe zu tun. Das funktioniert nach dem Kettenbrief-Prinzip: Man hat 25 Freunde zu benachrichtigen, fordert die kursierende Anleitung “25 Random Things About Me”.

5. Die 25-Dinge-Manie hat in den Vereinigten Staaten eine enorme Dimension erreicht: Analysten des Webstatistik-Dienstleisters Compete.com haben laut News.com ausgerechnet, dass Facebooks bislang wenig beachtete Notizblock-Funktion im Januar viermal so viele Zugriffe verzeichnet hat wie zuvor. Jedes vierte Facebook-Mitglied habe im Januar eine der digitalen Notizen gelesen.

6. Facebook selbst teilte mit, dass in der letzten Januar-Woche Mitglieder fünf Millionen Notizen geschrieben haben – ein Rekord mit gehörigem Abstand zu allen Werten davor. Eine Facebook-Sprecherin teilte News.com mit, man gehe davon aus, dass der Großteil des Wachstums den “25 Random Things About Me”-Notizen geschuldet sei.

7. Einer der ältesten heute noch bekannten Papier-Kettenbriefe kursierte 1935 in den Vereinigten Staaten – er warb mit dem Titel “Wohlstandsclub – In God we trust” für ein Schneeballsystem. Auf den Briefen waren fünf Adressen verzeichnet – an die obere sollten Empfänger zehn Cents per Post schicken, den Namen streichen und dafür ihren eigenen unten einsetzen und den Brief an fünf Freunde geben. Das Versprechen des Kettenbriefs: “Wenn Sie an der Spitze der Liste stehen (und die Kette nicht unterbrochen wurde), werden Sie 15.625 Briefe mit Zehn-Cent Stücken erhalten, was zusammen 1536,50 Dollar entspricht.”

8. Am 28. April 1935 trafen bei der Zentralpost in Denver 165.000 Kettenbriefe nach “Wohlstands-Club-Schema” ein. In St. Louis hatte sich am 8. Mai die zu verteilende Briefmenge dank der Kettenpost von durchschnittlich 450.000 auf 800.000 Briefe fast verdoppelt.

9. Mit der elektronischen Post kam die große Zeit der Kettenbriefe wieder: Es wurde vor fiktiven Viren gewarnt, vor HIV-Nadeln in Kinositzen und Rattenurin auf Getränkedosen. Es wurden Knochenmarkspender gesucht und zu beglückende Menschen für Schneeballsysteme mit Namen wie “Die Perle im Internet”. Ein sehr umfassendes und unterhaltsames Archiv solcher Großstadtmärchen hostet die Technische Universität Berlin.

10. US-Medien berichten begeistert über die 25-Dinge-Epidemie, doch weder “New York Times”, “Time” noch “Wall Street Journal” haben den Urheber der Manie entdeckt. Das “WSJ” spricht von einem “Facebook-Mysterium“.

11. Ein Facebook-Kontakt von “Time”-Redakteurin Claire Suddath weinte, als Mister Spock im zweiten “Star Trek”-Film starb.

12. Ein anderer Freund von Claire Suddath klebt sich von Zeit zu Zeit die Daumen mit Packband an den Händen fest, um “zu sehen, wie sich die Dinosaurier damals gefühlt haben” – zumindest schreibt sie das in ihrer 25-Dinge-Liste.

13. Die 25-Dinge-Epidemie kombiniert die Kettenbrief-Logik mit dem Drang zu Kürzesttexten von Web-Nutzern und ihrer Mitteilungsfreude – eine virale Mischung aus Hoax, Twitter und Facebook.

14. Die witzigsten 25-Dinge-Anekdoten dürften so gut ausgedacht sein wie diese hier: “Meine Frau nennt mich Panda. Als ein Freund von uns das herausgefunden hatte und mich Ling Ling nannte, wurde ich sauer.”

15. Facebook-Mitarbeiterin Jamie Schopflin Hall musste als Kind drei Jahre lang eine Zahnspange tragen. Eines Tages entfernte sie das Ungetüm dann selbst mit einer Pinzette und einem Stift.

16. Bei Facebook organisieren sich die 25-Dinge-Verweigerer in ein paar Dutzend Hass-Gruppen mit Namen wie “Genug mit den 25 Dingen!” und “Tatsache Nr. 1: Es interessiert niemanden!”

17. Die Satiriker des US-Unternehmens Despair Inc. (“Verzweiflung AG”), die sich 2001 das Missvergnügten-Emoticon :-( als Warenzeichen schützen ließen, kommentieren den 25-Dinge-Wahn mit einem T-Shirt, auf dem steht: “Ich wollte nie auch nur eine einzige Tatsache über dich wissen.”

18. Den Song “Zwei oder drei Dinge, die ich von dir weiß” veröffentlichte die Band Blumfeld 1994. Jean-Luc Godards Drama gleichen Titels kam 1967 in die Kinos.

19. Ein Kettenbrief-Hasser beschreibt in einem Facebook-Forum den Ausbruch der 25-Epidemie so: “Das ist wie ein Zombie-Virus. Wie Herpes. Oder welche Metapher auch immer euch näherbringt, dass es nicht aufhören wird.”

20. Das US-Webmagazin “Slate” will Herkunft und Genese der Epidemie mit einer eigenen Umfrage rekonstruieren.

21. Sarah Morgan, bislang unbekannte Pressesprecherin eines US-Pflegedienstleisters, hat in ihrem Leben bislang “6,5 Männer” geküsst und wird damit von der “New York Times” zitiert.

22. In Weblogs heißt der Kettenbrief-Wiedergänger “Stöckchen”: Ein Blogger wirft dieses (meist ein Fragenkatalog), andere beantworten die Fragen, veröffentlichen den Beitrag und werfen das Stöckchen weiter – über Trackbacks ist zu sehen, wo der Kettenbrief herkam. Manche Stöckchen können Abmahnungen nach sich ziehen.

23. “Ich schreibe das, um Sympathie und Aufmerksamkeit zu erhalten”, gesteht eine 25-Dinge-Listen-Autorin.

24. Facebook-Managerin Jamie Schopflin Hall hat ihren Mann so kennengelernt: Sie sah ihn in San Francisco in der Bar “Savoy-Tivoli”, und als er vorbeiging, boxte sie ihn in den Bauch.

25. Es hat drei Stunden gedauert, diesen Text zu schreiben..


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert