Zum Inhalt springen

Web-Strategie: "Financial Times" rüstet gegen Kostenlos-Konkurrenz (Spiegel Online, 1.10.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Verwirrung um Web-Strategie

"Financial Times" rüstet gegen Kostenlos-Konkurrenz

Chaos-Kommunikation: Die "Financial Times" kündigt Gratis-Artikel auf "FT.com" an. Doch was kostenlos sein wird und was bisher kostenlos ist, kann der Verlag selbst nicht erklären. Mit dem Schritt wollen sich die Briten gegen entsprechende Pläne des Konkurrenten "Wall Street Journal" rüsten.

Spiegel Online, 1.10.2007

Diese Nachricht hat die britische "Financial Times" exklusiv – und präsentiert sie kostenlos auf ihrer Website "FT.com": Von Mitte Oktober an soll es auf der Webseite mehr kostenlose Artikel geben. Leser müssen sich kostenlos registrieren, können dann eingeloggt auch eigentlich kostenpflichtige Artikel ansehen – 30 Mal pro Monat. Bislang gab es die nur im Online-Abo. 120 Euro kostet das zum Beispiel für deutsche Nutzer jährlich. Wie das neue Angebot genau funktionieren wird, konnte die FT-Pressestelle auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE bislang aber nicht beantworten. Welche Artikel von Mitte Oktober an kostenpflichtig sind, wie hoch der Anteil am Gesamtangebot ist – unklar. Die Pressemitteilung und die Aussagen des FT-Herausgebers Ien Cheng sind in zwei Richtungen interpretierbar: Das komplette FT-Angebot ist ab Mitte Oktober kostenpflichtig, 30 Artikel können kostenlos abgerufen werden. Oder: Die 30 Freiabrufe betreffen nur heute ohnehin kostenpflichtige Beiträge.

Nur: Was kostet auf "FT.com" heute überhaupt Geld? Immer wieder stößt man beim Browsen auf eine Bezahlschranke, eine Systematik ist aber von außen nicht zu erkennen. Aber auch bei der FT herrscht Verwirrung darüber, welche Artikel gegenwärtig Geld kosten. Sprecherin Jo Crosby: "Wirtschaftsnachrichten sind kostenpflichtig."


Chaos-Kommunikation zum Kostenlos-Start

So stimmt das aber nicht: Ohne Login kann man auf den FT-Seiten auch einige ältere Wirtschaftsartikel frei lesen. Die meisten aktuellen Beiträge sind ohnehin kostenlos. Von den zehn meistgelesenen Artikel des Tages sind heute nur drei Abonnenten vorbehalten. Darauf hingewiesen, kündigt die Pressestelle weitere Recherchen an.

Fest steht: 101.000 Online-Abonnenten zahlen laut "FT.com" weltweit für Sonderdienste. Dazu gehören neben dem Zugang zu allen Artikel auf "FT.com" auch Datenbanken mit Börsendaten, Unternehmens-Profile mit Detail-Informationen, das Fünf-Jahres-Archiv und Werkzeuge zur Nachrichtensuche. Umgerechnet 10 bis 13 Millionen Euro soll "FT.com" laut "Guardian" jährlich an Abogebühren einnehmen.

Ein Angebot für eine spezielle, kleine Zielgruppe also. Das sehen die Manager von "FT.com" offenbar genauso. Herausgeber Ien Cheng erklärt im eigenen Blatt, der Wechsel könnte einer Mehrheit der Leser entgegenkommen, die über Links von außerhalb auf die Seite kommen, aber nicht viel mehr als 30 kostenpflichtige Artikel im Monat suchen. Cheng: "Die Zahl 30 ist nicht zufällig, wir haben genau untersucht, wie Leser auf die Seite kommen."

Zaghafter Versuch, neue Leser zu finden

Die Hoffnung, mit einem offenen Angebot mehr Reichweite zu erzielen und neue Leser anzulocken, hat Mitte September schon die "New York Times" dazu bewogen, ihr Webangebot von Bezahlschranken zu befreien (mehr…). "Nytimes.com"-Geschäftsführerin Vivian Schiller argumentierte im eigenen Blatt wie Cheng: "Wir haben nicht das rasante Wachstum der von Google, Yahoo und einigen anderen kommenden Besuchern erwartet."

Der Vergleich mit der "New York Times" zeigt allerdings, wie halbherzig der Befreiungsversuch der "Financial Times" tatsächlich ist. Die "New York Times" hat fast ihr gesamtes Archiv kostenlos online verfügbar gemacht. Die Rechnung: mehr Google-Treffer, mehr Leser, mehr Anzeigen-Umsatz. Ein zweistelliges Wachstum der Anzeigenumsätze erhofft sich das Unternehmen von den Millionen neuer Artikel, die jetzt von Suchmaschinen wie Google erfasst werden.

Eine ähnliche Rechnung hat schon der neue Besitzer des "Wall Street Journal", Rupert Murdoch, aufgemacht, als er mehrmals öffentlich von einem allein werbefinanzierten Online-Angebot des Blatts schwärmte (mehr…) (siehe Kasten unten).

VORTEILE DER GRATISSEITE: DIE RECHNUNG AM BEISPIEL "WSJ.COM"

Sonderfall "WSJ.com"
Die Internetseite des US-Wirtschaftsblatts "Wall Street Journal" ist das letzte komplett kostenpflichtige Web-Angebot einer US-Zeitung. Im August bestätigte Neu-Eigentümer Murdoch in einem Analystengespräch, dass seine Manager bereits ein Ende des Abo-Modells bei "WSJ.com" prüfen. Das wäre wäre ein gewaltiger Schritt für die Branche – "WSJ.com" hat immerhin fast eine Million zahlender Leser gewonnen, bei einem Jahres-Abo-Preis von 79 Dollar

Abo-Erlöse bislang
Douglas Anmuth, Analyst für Internet und Medien bei der US-Investmentbank Lehman Brothers, schätzt in einem Bericht, dass sich die Einnahmen von "WSJ.com" in diesem Jahr so verteilen: 65 Millionen Dollar Abo-Erlöse, 75 Million Dollar Werbegelder.

Wertvolle Anzeigenplätze
Eine aufgerufene Seite bringt beim komplett kostenpflichtigen "WSJ.com" viermal so viel Werbegelder wie bei der weitgehend kostenfreien – und beliebten – Konkurrenz von "Nytimes.com". Sprich: Die zahlenden Kunden bei "WSJ.com" sind Werbetreibenden mehr wert als die vielen, nicht so attraktiven Online-Leser der "New York Times." Deshalb darf man die heutigen Werbeeinnahmen von "WSJ.com" pro Seitenaufruf nicht einfach linear für eine wachsende Leserschaft hochrechnen – denn die neuen Leser werden Werbekunden wahrscheinlich nicht so viel wert sein wie die heutigen.

Das nötige Wachstum
Analyst Douglas Anmuth sagt beim "Wall Street Journal" für die erste Zeit nach einer etwaigen Umstellung einen Umsatzeinbruch voraus: "Die Einnahmen werden deutlich sinken." Mittelfristig müsse "WSJ.com" kräftig neue Leser dazugewinnen, um erfolgreich zu bleiben. Denn durch die Umstellung dürften die Anzeigenplätze an Wert verlieren. Aber auf lange Sicht ist Anmuth optimistisch: Die Nutzerzahl werde wachsen, die Werbeeinnahmen dürften steigen. Vor allem, weil die Seite ihre heutigen Leser nicht durch den Wechsel des Geschäftsmodells verlieren wird.  

Die "Financial Times" hingegen hält ihr Archiv weiterhin verschlossen. Offenbar glaubt man, die Inhalte würden an Wert verlieren, wenn sie mehr Verbreitung finden. Herausgeber Chen beschreibt den Kompromiss in der Druckausgabe der "Financial Times" so: "Wir haben immer geglaubt, dass der Journalismus, den wir machen, unserer Kernleserschaft etwas wert ist." Mit dem neuen Online-Modell könne man an diesem Prinzip festhalten und gleichzeitig mehr Aufmerksamkeit im Netz einheimsen.

Online-Werbung wächst viel schneller als Abozahlen

Die Kernleserschaft von 101.000 Online-Abonnenten ist allerdings klein im Vergleich zu den offiziellen Nutzungsdaten von "FT.com": 6,5 Millionen Besucher im Monat. Zum Hintergrund: Wer mehrere Seiten hintereinander abruft, gilt als ein Benutzer, wenn er nach einiger Zeit wiederkommt, wird er erneut als Nutzer gezählt.

Nun wachsen auf "FT.com" die Abonnentenzahlen nicht mehr dramatisch, die Anzeigenumsätze allerdings schon. Um 40 Prozent seien die Einnahmen in den vergangenen Monaten gestiegen, sagte Herausgeber Cheng dem "International Herald Tribune".

30 Artikel als Strategie gegen Kostenlos-"WSJ.com"

Nun ist "WSJ.com" der Hauptkonkurrent von "FT.com". 40 Prozent der FT-Online-Leser kommen aus den Vereinigten Staaten, 30 Prozent aus Großbritannien und 30 Prozent aus dem Rest der Welt. Wenn nun das "Wall Street Journal" sein bislang kostenpflichtiges Angebot komplett frei gibt, dürfte das die "Financial Times" viel Online-Reichweite, womöglich einige US-Web-Abonnenten und letztlich auch Werbeeinnahmen kosten.
30 kostenlose Artikel als Abwehrstrategie gegen diese mögliche Konkurrenz wirken dürftig. Aber die "Financial Times" glaubt weiter an Bezahl-Inhalte im Netz: "FT.com" will man ausbauen, um neue Videoformate, Blogs und umfassendere Marktinformationen ergänzen. "Financial Times"-Geschäftsführer John Ridding glaubt, dass viele "’FT.com’-Leser von diesen Veränderungen und der Qualität unserer Angebote angelockt und zu regelmäßigen Lesern und Abonnenten werden".

Kostenlose Artikel als Abo-Werbung für aufwendige, exklusive Online-Inhalte und Archivmaterial – so ähnlich hatte die "New York Times" 2005 ihr Web-Abo "Timesselect" angepriesen. 227.000 zahlende Abonnenten warb "Nytimes.com" so an. Zu wenig – vor zwei Wochen ist "Timesselect" verschwunden.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert