Wenn das Leben zur Software wird (Tagesanzeiger, 5.7.2001)
Wenn das Leben zur Software wird
Die Netzkunst-Gruppe 0100101110101101.org legt die neue Agenda der New Economy bloss.
Tagesanzeiger, 5.7.2001
David Cronenberg hat es geahnt. In seinem Film "Crash" versuchten Menschen ihre Körper bei ungeheuer erotischen Autounfällen mit denen ihrer Wagen zu verschmelzen, um eine neue ästhetische Daseinsform jenseits der Gegensätze von Natur, Kunst und Technologie zu schaffen. In "eXistenZ" wurde Cronenberg konkreter: Menschen statten ihre Körper mit künstlichen Öffnungen aus, um über diese Schnittstellen Computerspiele zu erleben. Der Mensch wird technisiert, während Computer aus künstlichem Fleisch gefertigt werden. Nur ein Aspekt dessen, was Cronenberg seit einem halben Jahrzehnt zeigt, wird seit kurzem als genetische Selbstzüchtung diskutiert. Wieder ist es die Kunst, die neue Perspektiven auf diese Problematik eröffnet. Das Netzkunst-Projekt der italienischen Künstlergruppe 0100101110101101.org spinnt Cronenbergs Ansatz fort: "Je mehr jemand mit einem Computer arbeitet, desto ähnlicher wird der Rechner seinem Gehirn."
"Now you are in my computer" begrüsst das Kunstwerk den Betrachter. Aber was bezeichnet "my"? Der Betrachter sieht zunächst nur einen Verzeichnisbaum mit den Ordnern "tmp/", "boot/", "etc/", wie man ihn von fast jedem Computersystem kennt. Doch wer einige Monate mit seinem Computer verbracht hat, weiss, wie leicht in der Datenstruktur Bruchstücke der eigenen Persönlichkeit zu entdecken sind: Musik, archivierte Texte, Buchbestellungen, private Post, Termine, Protokolle, Notizen, begonnene Projekte, Fotos. So ist es auch bei "Life-Sharing", denn hier greift der Surfer direkt auf die Computerfestplatte der Künstler zu, einem Paar, das in Bologna lebt. Und so löst er das Versprechen des "my" selbst ein. Er stöbert in Ordnern wie "Lost + Found", liest E-Mails des Paares aus den vergangenen zweieinhalb Jahren, findet dabei vielleicht heraus, dass "Life-Sharing" vom angesehenen Walker Art Center in Minneapolis gefördert wird. Er erfährt auch einiges über die Teilnahme der Gruppe an der diesjährigen Biennale von Venedig.
Man darf "Life-Sharing" jedoch nicht mit dem Exhibitionismus per Webcam verwechseln, durch die Menschen sich Tag und Nacht beobachten lassen. Hier wird ja der scheinbar dokumentarische Charakter des Bildes benutzt, um an die Stelle vieler Wahrheiten eine einzige zu setzen. Diese ist natürlich ebenso fiktiv, schon allein, weil jeder Betrachter sie wieder anders wahrnimmt. Dabei sind keine Porträts von den Machern von 0100101110101101.org bekannt. Selbst ihre Namen sind kaum herauszufinden. Sie nennen sich gern "Zero" und "One" oder "Renato Pasopiani" und "Tania Copechi". Bei "Life-Sharing" geht es auch nicht um Bilder, sondern um das ureigene Thema von Netzkunst, um die Ästhetik von Daten und letztlich um den Menschen als Datenstrom. Die Anmut von Daten zeigen die fallenden, durchratternden, kreisenden Zahlenreihen in Filmen wie "Matrix" und "Pi" ebenso wie das gedruckte Genom.
"Life-Sharing" hinterlegt die Oberflächen der Verzeichnisstruktur mit immer neuen Textschnipseln aus E-Mails, Protokollreihen des Betriebssystems Linux oder einfach mit Hyperlinks, die zu streng begrenzten Kolumnen angehäuft werden wie der Hexcode eines Computerprogramms. Diese Daten- oder, altmodisch gesagt, diese Computerästhetik ist das Gegenteil von der Präzision, Kühle, Glätte und Ordnung, die man aus der Musik und den Videos von Kraftwerk kennt, die sogar heute noch mit den Begriffen Daten und Computer verbunden werden. "Life-Sharing" wirkt hingegen organisch, die Daten sind so körperlich, so lebendig wie jene aus allerlei ekligen Tierkörpern zusammengenähten, zuckenden und quiekenden Computer in "eXistenZ".
Um die Bedeutung dieses ästhetischen Statements zu erfassen, muss man die vorangegangenen Projekte von 0100101110101101.org kennen. 1999 kopierte die Gruppe die gesamten Inhalte der allein einem elitären Publikum zugänglichen Netzkunst-Galerie Hell.com und stellte sie der Öffentlichkeit auf dem eigenen Server zur Verfügung. Das Gleiche taten sie mit der Netzkunst-Galerie Art.Teleportacia der russischen Künstlerin Olia Lialina. Später veröffentlichte 0100101110101101.org Remixes aus den Daten anderer Netzkunst-Seiten. Die eigene Praxis kommentierten sie damals so: "Das Anfertigen von Klonen ist nicht das Einzige, was man mit diesen Seiten anstellen kann. Man kann sie modifizieren, etwas hinzufügen oder ihren Aufbau verändern. Man kann sie sogar zerstören. Man kann mit ihnen einfach tun, was man will."
Der Begriff des Klons fällt hier nicht zufällig. Die Evolution des Menschen verdankt sich unzähligen kreativen Kopien seines Erbguts. Fehlerhafte Kopien schaffen Mutationen, und erst durch diese wird Fortschritt möglich. Das Kopieren als kreative Aneignung, Bemächtigung und Entwicklung wendeten 0100101110101101.org zum Beispiel auf die Seite des Netzkünstler-Duos Jodi an. Der Remix von www.jodig.org stellte einen eigentlich versteckten Index an den Anfang, sodass Betrachter der Kunstwerke ganz neue Zugriffsmöglichkeiten hatten. Kreatives Kopieren und hemmungslose Bemächtigung sind der Weg. Die Voraussetzung und das Ziel präsentieren 0100101110101101.org bei "Life-Sharing". Die Künstler wollen das Projekt unter die so genannte Gnu Public Licence (GPL) stellen. Diese wurde vom amerikanischen Hacker Richard Stallman für freie Software wie das Betriebssystem Linux entwickelt. Kern der GPL ist, dass jeder Mensch das Programm kopieren, verteilen und weiterentwickeln darf. Dem System Linux bescherte die GPL eine sehr grosse Zahl von freiwilligen Entwicklern, die durch kreatives Kopieren das Programm verbessern. Sie verbesserten es so weit, dass Linux eine ernsthafte Konkurrenz zu Systemen ist, die nach dem herkömmlichen Modell der grösstmöglichen Kontrolle über die freigegebenen Daten gefertigt wurden.
"Life-Sharing" nun stellt eine bemerkenswerte Verbindung zwischen der technischen Sphäre der GPL und den biologischen Codes des Lebens her. 0100101110101101.org macht den Datenstrom ihres Lebens nicht nur für jedermann zugänglich, sondern auch kopier- und modifizierbar. Cronenberg hat gezeigt, wie organisch Technologie ist. 0100101110101101.org zeigt, wie organisch Daten sind. Die nahe liegende Schlussfolgerung: Warum nicht das extrem erfolgreiche Modell des Umgangs mit Daten bei der GPL auf den Menschen übertragen? Warum sollte ein unkontrollierter, unbeschränkter Zugriff auf den DNA-Code nicht zu einer ähnlich erfolgreichen Entwicklung wie Linux führen?
Die Verbindung zwischen Software und Leben ist in letzter Zeit häufig gezogen worden, gerade in Kreisen der libertären Technologieeliten der New Economy. Schon seit langem wird auf den Seiten von kuro5hin.org – ein hippes Onlinemagazin im Stil von slashdot.org – ein ebenso einfacher wie auf den ersten Blick bestechender Gedankengang diskutiert: Der menschliche Körper ist eine Maschine, Hardware gewissermassen. Der Mensch hat Bewusstsein, im übertragenen Sinn Software. Deshalb kann eine Maschine bewusstes Leben beherbergen. Solche Diskussionen sind Ausdruck einer seit längerem zu beobachtenden Entwicklung: Viele Unternehmen der Bio- und Gentechnologie bieten ihren Investoren Start-up-Geschichten wie vor einem halben Jahrzehnt noch die Unternehmen Yahoo! oder Amazon.com. Schaut man sich die Börsenkurse an, ist das Leben heute so sexy wie einst das Internet. Das Magazin "Wired" nahm jüngst in seinen Index der 40 Unternehmen, die die New Economy angeblich besonders gut repräsentieren, fünf Firmen aus dem Bio- und Gentechnologiebereich auf.
0100101110101101.org zeigt mit "Life-Sharing": Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der kalifornischen Idee des Silicon Valley ist dringender nötig denn je.