Wenn man selbst im Urlaub Leistung erbringen muss (Tagesanzeiger, 04.11.2002)
Wenn man selbst im Urlaub Leistung erbringen muss
Die Freizeit wird nach den Gesetzen der Arbeitswelt organisiert: In Computergames wie «Super Mario Sunshine» oder «Everquest» muss der Spieler arbeiten
Tagesanzeiger, 04.11.2002
Eigentlich könnte Mario sich zurücklehnen und die vielen Goldmünzen und anderen Schätze verprassen, die er in seinen zwei Jahrzehnten als Computerspielstar gesammelt hat. In mehr als 40 Spielen ist er bisher aufgetreten, war sich selbst für Titel wie «Preschool Fun» nicht zu schade. Nun macht er tatsächlich Urlaub. Doch Mario verprasst im neuen Spiel «Super Mario Sunshine» auf der Urlaubsinsel Delfino sein Geld keineswegs. Im Gegenteil: Auch in der hitzeflirrenden Luft dort akkumuliert Mario weiter Kapital. Er kann einfach nicht von der Erwerbsarbeit lassen.
Mit solchen Vorgaben motiviert «Super Mario Sunshine» sein Publikum. Um weiterzukommen, muss man – wie prinzipiell in fast jedem Jump-and-Run-Spiel – Dinge sammeln. Für 100 Goldmünzen gibt es ein Sonneninsignium. Und mit jedem dieser Insignien kann man sich ein wenig freier in der Spielwelt bewegen. Kurz gesagt: Leistung ist Arbeit in Zeit. Gemessen wird sie in Münzen, von denen man in möglichst kurzer Zeit so viele wie möglich anhäufen soll.
Natürlich unterfüttert das Spiel diese Gesetze narrativ. Jemand, der Mario sehr ähnlich sieht, überzieht die Insel mit einer glibberigen Farbschicht. Das Paradies ist in Gefahr und Mario unter Verdacht. Nach der Landung seines Ferienfliegers kommt er erst mal ins Gefängnis, dann vor Gericht und schliesslich wieder raus – um die Insel mit einer Wasserkanone von den Farbverwüstungen zu reinigen. Doch diese Handlung tritt im eigentlichen Spiel in den Hintergrund, es zählt dann die physische Arbeit, das Vorankommen und Sammeln um ihrer selbst willen.
So wie Marios vermeintlicher Urlaub schweisstreibende Arbeit ist, so arbeiten auch Spieler in ihrer Freizeit gemäss den Gesetzen der realen Arbeitswelt. Besonders gut lässt sich das derzeit in Online-Rollenspielen beobachten, wo einige Zehntausend Spieler interagieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova von der California State University betrachtet in einer Studie die Menschen in der Welt des Spiels «Everquest» nicht als Spieler, sondern als Arbeitende: «Was die Leute dort machen, kann man als Arbeit bezeichnen. Für Ökonomen gilt alles als Arbeit, was ein Mensch tut, um einen Gewinn zu erzielen. Es gibt in "Everquest einen Markt für Dienstleistungen. Die werden unterschiedlich bezahlt. Auf allen Märkten der Welt sieht man solche Unterschiede.»
Gerade diese Unterschiede reizen die Spieler. In Online-Rollenspielen entstehen Gesellschaften, in denen die soziale Position noch viel exakter zu beziffern ist als ausserhalb. So genannte Erfahrungspunkte drücken aus, wie viele Siege, wie viele Niederlagen eine Spielfigur erfahren hat. Je mehr Erfahrungspunkte man hat, desto mächtiger wird man und desto mehr Geld kann man verdienen. Das Bruttoinlandprodukt im Spiel «Everquest» liegt je nach Berechnungsmethode irgendwo zwischen dem Bulgariens und Russlands – bei einer ähnlich unausgewogenen Einkommensverteilung wie in südamerikanischen Staaten.
Spielwelten wie die von «Everquest» folgen also denselben wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten wie jene ausserhalb der Server. Mit einem wesentlichen Unterschied: In ihnen wird niemand je ohne Aufgabe, ohne Arbeit sein. Vor einigen Jahren beobachteten Soziologen wie Ulrich Beck, dass junge Menschen sich nicht mehr allein über die Arbeit definieren. Das scheint sich nun wieder zu ändern.
Dass Mario seinen Urlaub hüpfend, rennend, schwimmend und schwitzend auf der Jagd nach Goldmünzen und mehr Freiheit verbringt, ist kein Zufall. Mario ist der Prototyp des Menschen in der Krise der Erwerbsarbeit: Er organisiert seine Freizeit nach den Gesetzen der Arbeitswelt – gerade, weil Erwerbsarbeit knapper wird. Onlinespiele wie «Everquest» erschaffen anderseits die inzwischen Fiktion gewordene vollbeschäftigte Erwerbsgesellschaft neu. Denn auch jungen Generationen fällt es schwer, ausserhalb der Arbeit Sinn und Selbst zu finden. Was wäre schon ein Mario, der nicht springt, rennt und stampft?