Zum Inhalt springen

Wer hat Angst vor der Cyber-Polizei? (telepolis, 26.5.2000)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Knapp 33 Milliarden Mark Schäden verursachte das E-Mail-Virus "I love you". Diese Schätzung nannte die US-Regierung im Vorfeld der Pariser G-8-Konferenz über Internetkriminalität, die gerade in Paris stattfand. Ideale Voraussetzungen also, ein langgehegtes Ziel durchzusetzen: Kriminalisierung der Anonymität im Netz.

Frankreichs Premier Lionel Jospin sprach zur Einstimmung vom Kampf gegen "Exzesse einer unkontrollierten Freiheit", US-Justizministerin Janet Reno hatte schon Anfang März einen Bericht der Arbeitsgruppe "Internetkriminalität" präsentiert, der Anonymität als Hauptgefahr ausmacht. Im Vorfeld der G-8-Konferenz meinte der Schleswig-Holsteinische Datenschutzbeauftragte Helmut Bäumler, hier werde "die Diskussion um den I-love-You-Virus missbraucht, um die Anonymität zu diskriminieren." Schon seit Monaten fahren vor allem Deutschland, die USA und Frankreich einen harten Kurs in Sachen Internet. Ende Februar stellte Leo Schuster, Direktor des Bundeskriminalamtes (BKA), eine Studie der "Strategischen Kriminalitätsanalyse" (SKA) vor. Die Rechtssituation im Net sei "gekennzeichnet durch das Spannungsverhältnis zwischen weltweiter, weitgehend unkontrollierter Datenübertragung" und "unterschiedlicher oder fehlender nationaler Gesetzgebung sowie langwierigen Rechtshilfeabläufen. Reglementierungen gestalten sich schwierig, da es zum einen um die Inanspruchnahme von privaten und zum anderen um die Beachtung datenschutzrechtlicher Belange geht." Die Empfehlung des BKA: "Reduzierung der Anonymität".

Deutschland hofft hierbei wie Frankreich auf den Europarat. Ende April legte das Gremium, dem 41 Staaten angehören, einen ersten Entwurf einer Konvention gegen Verbrechen im Internet vor. Das frühestens im Herbst kommenden Jahres unterschriftsreife Papier soll kriminelle Handlungen wie Verstöße gegen Urheberrechtsabkommen und Handel mit Kinderpornografie definieren, die im Rahmen der Konvention per Rechtshilfeabkommen verfolgt werden. Internet-Provider sollen per Gesetz verpflichtet werden, Daten über "ablaufende Kommunikation" zu sammeln und den Behörden zur Verfügung zu stellen – genauer wird das Dokument nicht. Die Konvention des Europarats zielt darauf ab, dass Staaten wie die USA, Kanada, Japan und Südafrika ihr ebenfalls beitreten. Die USA haben jedoch ganz anderes im Sinn. Die Vorschläge des Expertengremiums des Präsidenten – ihm gehören neben FBI-Direktor Louis Freeh auch Vertreter von Militär und Drogenbehörden an – laufen darauf hinaus, dass alle Protokolldaten über Dateitransfers ohne Gerichtsbeschluss individualisiert gespeichert werden können. Barry Steinhardt, Vizedirektor der US-Bürgerrechtsorganisation ACLU kommentierte die Vorschläge so: "Wenn unsere Regierung wirklich Internetkriminalität bekämpfen will, sollte sie sichere Netzwerke und Verschlüsselungstechniken zulassen, statt Bürgerrechte abzuschaffen."

Entgegen dieser Kritik wollte die US-Regierung auf der G-8-Konferenz eine weltweit agierende Fahndungsbehörde durchsetzen, so etwas wie die Cyber-Polizei. Der Vorschlag ist gescheitert. Frankreichs Innenminister Jean-Pierre Chevènement betonte schon am ersten Tag: Eine Polizei, die "Grenzen der einzelnen Staaten und ihre souveränen Kompetenzen überschreitet, ist ausgeschlossen." Das sagte er nicht etwa, um Bürgerrechte zu schützen. Die Strategie Frankreichs und Deutschlands, über den Europarat eine Plattform gegen Internetkriminalität zu schaffen, zielt vielmehr darauf ab, nationale Interessen zu wahren. Und das insbesondere gegenüber den USA. "Die amerikanischen Polizei- und Justizstellen möchten gern superschnelle Reaktionskräfte, während wir Europäer lieber die gewohnten legalen Wege beibehalten", so ein französischer Diplomat. Die Betonung liegt auf europäisch. Denn bei einer Behörde auf Basis des Europarats hätten die USA deutlich weniger Einfluss – angesichts wechselseitiger Vorwürfe der Wirtschaftsspionage ein angenehmer Nebeneffekt für die darin vereinigten EU-Staaten.

Dass die G-8-Konferenz ohne konkrete Ergebnisse blieb, ist aber vor allem den Industrievertretern zu verdanken. Sie stellten die Hälfte der 300 Teilnehmer. Sowohl die Internet Alliance (AOL, MCI WorldCom, Deutsche Telekom, Microsoft) als auch das Global Internet Project (Deutsche Bank, Fujitsu, Sony) lehnten es ab, zum "Hilfspolizisten" zu werden. David Aucsmith vom US-Unternehmen Intel meinte gönnerhaft: "Wir können Computerschulungen für die Polizei organisieren. Regierungen sollten nicht die Letzten sein, die sich mit neuen Technologien befassen".

In der Tat haben Behörden weniger Erfahrung mit der Technik als Internetfirmen. Und es dauert lange, sich per Gerichtsweg Zugriff auf deren Datenmaterial zu verschaffen. Insofern spricht einiges für freiwillige Kooperation. Andererseits bedeutet freiwillige Kooperation, dass immer noch die Unternehmen bestimmen, wann sie kooperieren. Und das ist ihnen wichtig. Denn Anonymität ist entscheidend für die meisten eCommerce-Geschäfte. Das hört bei Pornographie auf und beginnt bei Auktionen auf den Seiten des US-Internetportals Yahoo.com. Dort können Nutzer Neonazi-Objekte ersteigern. In den USA ist das legal. In Frankreich nicht. Nur bekommen französische Behörden nicht mit, wer aus Frankreich etwas auf den amerikanischen Seiten von Yahoo.com ersteigert. Und so läuft in Paris ein Prozess gegen Yahoo.

Staatsanwalt Pierre Delange sieht zuversichtlich auf das für Ende Mai erwartete Prozessende: "Direkt oder indirekt ist diese Firma auf unserem Boden aktiv". Yahoo-Anwalt Cristophe Pecnard bemüht hingegen das viel benutzte Argument von eCommerce-Anbietern: "Was uns hier vorgeworfen wird, ist in den USA nicht strafbar. Muss Yahoo tatsächlich dafür sorgen, dass seine Site gegen kein Gesetz der Welt verstößt?"

Der von Staaten wie Frankreich, Deutschland und den USA angestrebten einheitlichen Rechts-, Exekutiv- und Kontrollplattform stehen also die Interessen von eCommerce-Firmen entgegen. Nur sind die nicht mit den Zielen von Organisationen wie der ACLU zu vergleichen. So müssen ausländische Online-Dienste nicht deutsches Datenschutzrecht beachten, wenn sie Daten über ihre deutschen Kunden allein außerhalb Europas sammeln, speichern und an Dritte verkaufen. Die weltweit größte Online-Marketing-Agentur DoubleClick kündigte Ende Januar den Aufbau einer nutzungs- und personenbezogenen Datenbank über Konsumenten an. Laut deutschem Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) ist das illegal. In den USA, wo die DoubleClick-Zentrale sitzt, aber nicht. Inzwischen allerdings hat das Unternehmen nach massiven Protesten in den USA Abstand von dem Projekt genommen.

Bislang sind die Firmen des elektronischen Handels nicht an suprastaatlichen Regelungen interessiert. Bei Urheberrechtsverletzungen haben sie Geld und Anwälte, ihre Rechte gegenüber nationalen Behörden einzuklagen. In Deutschland reichen die Sanktionsmöglichkeiten von anwaltlicher Abmahnung, über einstweilige Verfügung bis hin zum Schadensersatz. Mit den Idealen von Internet-Aktivisten wie ACLU hat all das wenig zu tun. In einem Positionspapier der Internet Alliance zum G-8-Gipfel heißt es, man solle statt neue Gesetze zu verabschieden lieber die bereits vorliegenden stärker einsetzen. Wie man das tut, hat DoubleClick ja bereits gezeigt.
 

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Der common senf aktueller Debatten um Staatsausgaben, Tarifverhandlungen und Zinspolitik scheint mir gerade ein gefährlicher: Alle sollen sparen. Der Staat soll weniger ausgeben und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Arbeitnehmer sollen Reallohnverluste akzeptieren, sparen und damit der Gesamtwirtschaft Geld entziehen. Und Unternehmen sollen sparen, bloß keine Kredite aufnehmen für Investitionen

Wer investiert in die Zukunft, wenn alle sparen?

Paradox der Gegenwart

Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. Überspitzte Maxime: Was ich will, ist heilig – alles geht vom Individuum aus. Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt. Überspitzte Maxime: Ich

Paradox der Gegenwart

Wie Schmecken funktioniert

Gelernt: Geschmack und Aroma sind zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Für jede ist ein anderer Teil im Gehirn verantwortlich. Und jede basiert auf unterschiedlichen Daten: Für den Geschmack kommen Eindrücke von der Zunge, fürs Aroma von Rezeptoren in der Nase. Beides vermischt das Gehirn zum Gesamteindruck Schmecken. Sehr lesenswerter Aufsatz darüber

Wie Schmecken funktioniert