WikiLeaks-Sperrungen: Im Zweifel für die Meinungsfeigheit (Spiegel Online, 9.12.2010)
WikiLeaks-Sperrungen
Im Zweifel für die Meinungsfeigheit
Schützt die US-Verfassung WikiLeaks? Nur Gerichte könnten entscheiden, wie weit die Plattform gehen darf – doch Amazon & Co. sperren die Aktivisten einfach aus, statt es auf eine Klärung ankommen zu lassen. Die Feigheit der Konzerne bedroht die Freiheit im Netz.
Spiegel Online, 9.12.2010
{jumi [*3]}
Die Enttäuschung ist groß – die Wut noch größer.
Warum entscheiden Internetunternehmen wie Amazon und PayPal, dass sie WikiLeaks nicht als Kunden wollen? Verärgerte Bürger rufen in Online-Foren, auf Facebook und Twitter zum Boykott auf. Oft fällt der harte Vorwurf der Zensur.
{jumi [*4]}
Im Moment führt dieser Begriff in die Irre. Zumindest von staatlicher Zensur kann keine Rede sein. Dafür müsste ein Gericht im konkreten Fall gegen die Pressefreiheit entscheiden. Das ist nicht geschehen – auch weil es die Internetfirmen gar nicht erst darauf ankommen lassen.
Trotz allen politischen Drucks, gegen WikiLeaks vorzugehen – in den USA ist es nicht verboten, Spenden für die Plattform abzuwickeln oder ihre Dokumente zu verbreiten. Nur haben sich die beiden Internetunternehmen entschlossen, dies nicht mehr zu tun.
WikiLeaks kann allerdings noch per Twitter und Facebook kommunizieren, und viele Privatleute können bei ihren Internetanbietern Inhalte der Plattform spiegeln. Denn all diese Unternehmen haben sich nicht entschieden, WikiLeaks zu sperren.
Die unterschiedlichen Reaktionen der Internetfirmen auf die WikiLeaks-Veröffentlichungen zeigen ein Dilemma auf. Viele Bürger nehmen das Netz als öffentlichen Raum war – doch tatsächlich ist es der Raum von Unternehmen, die fast alle Foren im Web beherrschen und dort im Zweifelsfall ihr Hausrecht durchsetzen.
Fürchtet Amazon die Regierung oder empörte Patrioten?
Wie frei Bürger im Netz wirklich sind, hängt letztlich davon ab, ob diese Firmen Konflikte mit dem Staat austragen wollen oder mit anderen Firmen – zum Beispiel Copyright-Inhabern. Sie müssen stellvertretend ausloten, wie weit das Recht auf freie Meinungsäußerung geht, wann es andere Normen verletzt – zum Beispiel Persönlichkeits- oder Urheberrechte.
“Pick your fights” heißt eine Redensart: Such dir aus, wofür du kämpfen willst. Die Internetriesen Amazon und PayPal haben entschieden, den Kampf für WikiLeaks nicht aufzunehmen. Sie gehen dem Konflikt aus dem Weg und werfen die Aktivisten mit Hinweis auf die Geschäftsbedingungen raus. Das ist ihr gutes Recht. Firmen dürfen feige handeln, wenn ihnen ein Risiko zu hoch erscheint.
Jenes Risiko könnte eine wie auch immer geartete Drohung aus der US-Politik gewesen sein – oder aber die Wut von US-Kunden, die WikiLeaks als Plattform für Landesverrat sehen. Diese Wut könnte die Firmen härter treffen als der Aufstand jener Aktivisten, die nun zum Amazon- und PayPal-Boykott aufrufen.
Die Boykottaufrufe sind trotzdem gut. Sie könnten den Firmen zeigen, dass es vielleicht genau andersherum ist: dass sie die öffentliche Meinung in Sachen WikiLeaks falsch eingeschätzt haben und eine Sperrung mehr Kunden als erwartet vergrault. Vielleicht fällt die Entscheidung beim nächsten Streitfall anders aus.
Wirklich beunruhigend sind die Kurzschlussreaktionen der Firmen aber, weil ihre Art der Auseinandersetzung mit kontroversen Sachverhalten dem Internet schadet, ganz unabhängig von der Frage, wie man zu WikiLeaks steht. Denn die Positionen sind so konträr – Landesverrat vs. Dienst an der Allgemeinheit -, die strittige Frage ist so fundamental – was dürfen Bürger veröffentlichen? -, dass hier tatsächlich Gerichte Grundsatzentscheidungen fällen müssten.
WikiLeaks-Aktivisten könnten gegen Amazon klagen
Derzeit ist fraglich, ob es dazu kommen wird – und das nicht nur, weil die Netzgiganten zu feige sind, um den Klagewillen der US-Regierung gegen WikiLeaks-Inhalte auf die Probe zu stellen. Vielmehr gehen auch die WikiLeaks-Aktivisten selbst einer rechtlichen Klärung aus dem Weg.
Statt gegen Amazon zu klagen, transferieren sie die Daten einfach auf andere Server. Das ist pragmatisch. Aber auf lange Sicht würde es dem Internet in den USA mehr nutzen, wenn die Frage vor ein Gericht gebracht würde: Darf Amazon Inhalte eines Kunden einfach so löschen?
In Deutschland wird eine ähnliche Frage hoffentlich vor Gericht diskutiert. Denn die gemeinnützige Wau-Holland-Stiftung, die hierzulande für WikiLeaks Spenden sammelt, prüft juristische Schritte gegen PayPal. Die Ebay-Tochterfirma hatte ein Konto der Stiftung gesperrt – und eine Bank darf nicht einfach so einer Organisation oder Partei die Konten kündigen. Zu diesem Thema gab es in Deutschland schon einige Prozesse.
Die Frage in den USA ist: Schützt die Verfassung des Landes auch umstrittene Veröffentlichungen? Es ist zu hoffen, dass im WikiLeaks-Streit ein Gericht diese Frage klärt – statt wie jetzt Unternehmen, die Beschlüsse auf Basis der erwarteten öffentlichen Meinung und des Konfliktpotentials mit Politikern treffen.
Nur solange sich Firmen finden, die Grundrechte großzügiger interpretieren als Amazon, wird das Internet als öffentlicher Raum funktionieren.
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