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Wo die Strafen keinen Namen haben (Süddeutsche Zeitung, 24.4.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Wo die Strafen keinen Namen haben 

Die Gefängnisindustrie in den Vereinigten Staaten ist zum neuen Wirtschaftsfaktor geworden

Süddeutsche Zeitung, 24.4.2001

Außer Gestrüpp gibt es wenig im Süden von Texas. Die meisten Einwohner des kleinen Städtchens Beeville arbeiteten seit Mitte der fünfziger Jahre beim Luftstützpunkt der Marine. 2000 Jobs mit insgesamt 27 Millionen Dollar an Gehaltszahlungen im Jahr schaffte der Kalte Krieg in Beeville, 30 Prozent der Wirtschaft hingen von der Marine ab. 1991 schloss der Stützpunkt. Heute stehen auf den ehemaligen Militärarealen zwei Gefängnisse. 1500 Arbeitsplätze bringen 30 Millionen Dollar an Gehältern. Beeville hat 13000 Einwohner – und 7200 Gefangene.

In den Vereinigten Staaten hat die Gefängnisindustrie die Funktionen des militärisch-industriellen Komplexes übernommen. Wurden früher Militärstützpunkte als Wirtschaftshilfe in armen, ländlichen Regionen gebaut, sind es heute Gefängnisse. Über 150 private Haftanstalten gibt es in den Vereinigten Staaten, die Betreiber nutzen ihren Einfluss in der Politik für den eigenen Profit. Diese These vertritt der Pulitzerpreis-Träger Joseph Hallinan in seinem jüngst erschienenen Buch „Going up the river“. Den Begriff des prison-industrial complex prägte 1998 Eric Schlosser – Autor des eben erschienen Buches „Fast Food Nation“ – in einem Beitrag für Atlantic Monthly. Auch er arbeitet zur Zeit an einem Buch über die Gefängnisindustrie.

Die Parallelen zum Kalten Krieg sind nicht nur ökonomisch. Die Angst vor Kriminalität ist in den neunziger Jahren zu einem massenpsychologischen Phänomen wie die Kommunistenfurcht in den Sechzigern und Siebzigern geworden. In Beeville etwa, wo die Kriminalitätsrate von 1991 bis 1995 um elf Prozent sank, hörte Hallinan immer wieder, das Verbrechen sei „eine klare, gegenwärtige Bedrohung“ vor Ort, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall war.

Dass die Kriminalitätsrate in den Vereinigten Staaten sinkt, ist mittlerweile Allgemeinwissen. Und doch werden die Gefängnisse immer voller. Allein Kalifornien hat mehr Gefangene in seinen Anstalten als Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Japan, Singapur und die Niederlanden zusammen. 1, 3 Millionen Amerikaner saßen im Jahr 2000 in Staats- oder Bundesgefängnissen. Und jede Woche kommen 1000 hinzu. 476 von 100000 Amerikanern saßen 1999 im Gefängnis, 1939, zu Zeiten Al Capones waren es nur 137.

Dieser Anstieg ist vor allem die Folge schärfer Gesetze, nicht steigender Kriminalität. 1983 wurde in den Vereinigten Staaten das erste private Gefängnis von der Corrections Corporation of America (CCA) gebaut. Ein Jahr später erließ der Kongress ein Gesetz, das vorzeitige Haftentlassung fast gänzlich abschaffte und zugleich die Freiheit der Richter beim Festsetzen des Strafmaßes beschnitt. Seitdem steigen die Gefangenenzahlen. 59 Prozent der Häftlinge sitzen heute wegen Drogendelikten. Die durchschnittliche Strafdauer für den Verkauf von Crack beträgt elf Jahre – bei einem Mord sind es sechs. Spätestens hier wirken Drogen wie ein zweiter Kommunismus: Eine nahezu unsichtbare Kraft, die von außen in das Land strömt und es zersetzt. Die Antwort konnte nicht Rehabilitation und Reintegration heißen. Der antiamerikanische Einfluss von Drogendealern musste abgetrennt, verbannt, weggesperrt werden, während die Gemeinschaft im Kampf gegen die kranken Elemente enger zusammenrückte.

Einer repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahr 1995 zufolge glaubt nur ein Viertel der US-Bürger, dass Gefängnisse der Rehabilitation dienen sollten. Gerade mal fünf Prozent des kalifornischen Strafvollzugsbudgets werden für Wiedereingliederungmaßnahmen ausgegeben. 70 Prozent der Gefangenen in den Vereinigten Staaten sind Analphabeten, auf einen Drogentherapieplatz in Gefängnissen kommen im Durchschnitt zehn Bewerber. Haftanstalten werden nicht zum Nutzen der Inhaftierten gebaut – sondern jenem der ordentlichen, amerikanischen Bürger. Mit über 600000 Beschäftigten sind die staatlichen und privaten Gefängnisse nach General Motors und Wal-Mart der drittgrößte Arbeitgeber der Vereinigten Staaten, wie Loic Waquant in „Elend hinter Gittern“ vorrechnet. Für wirtschaftlich schwache und unattraktive Regionen sind Gefängnisse die einzige und beste Entwicklungshilfe.

Viele Menschen in Städten wie Beeville sind Gefängniswärter. Nicht nur, weil es überhaupt ein Job ist – es ist auch ein sehr attraktiver, gutbezahlter mit zusätzlicher Krankenversicherung und einem Rentenanspruch. Der Journalist Ted Conover, der ein Jahr lang im New Yorker Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing arbeitete, beschreibt in seinem Buch „Guarding Sing Sing“ seine Mitanwärter bei der Ausbildung: Ein Filialmanager von Burger King, ein Klempner, ein Gebäudereiniger, ein Vertriebsmanager von Wal-Mart, ein Inhaber eines Fitness-Studios.

Nicht nur die Einwohner von Städten wie Beeville und die Aktionäre von Unternehmen wie CCA – die Anteile gewannen Anfang der Neunziger Jahre zeitweise um 1000 Prozent an Wert – profitieren vom amerikanischen Gefängnisboom. Die Inhaftierten bescheren auch anderen privaten Unternehmen ansehliche Gewinne. So verlegte etwa der Möbelhersteller Kwalu 1997 seine Produktion von Kapstadt in ein Gefängnis in South Carolina. Die Arbeitsstunde eines Gefangenen kostet ingesamt sieben Dollar. In Kapstadt beträgt der Lohn zwar nur ein Drittel davon, doch die Produktivität der Gefangenen gleicht das mehr als aus. Sie müssen arbeiten, obwohl ihnen nach Abzügen von dem Geld gerade mal 1,20 Dollar bleiben. Der Großteil der Jobs qualifiziert die Gefangenen in keiner Weise. Um Hühnerställe sauber zu machen, muss ihnen nicht einmal das Lesen beigebracht werden.

Auch bekannte Firmen wie AT&T profitieren von Gefängnissen. Für Ferngespräche geben Häftlinge im Jahr Schätzungen zufolge eine Milliarde Dollar aus. Nur können sie nicht den billigsten Anbieter wählen. Die Gefängnisleitung entscheidet, mit welcher Firma telefoniert wird. Deshalb gibt AT&T bis zu 50 Prozent der Gewinne an die Gefängnisse weiter, allein in New York kamen 1997 so 21,2 Millionen Dollar zusammen. MCI gibt dem Staat Kalifornien 32 Prozent der Gewinne ab, und den Häftlingen bleibt nicht anderes übrig, als für jeden Anruf eine obligatorische Zusatzgebühr von drei Dollar zu zahlen.

Die Abkehr von der Rehabilitation hin zu Strafe und Profit hat nicht etwa ruhigere, straff organisierte Gefängnissen geschaffen. Die Gewaltbereitschaft der Gefangenen steigt, je weniger sinnvolle Beschäftigung sie haben. Da die meisten Inhaftierten aus Großstädten stammen und zum Teil einige hundert Meilen entfernt von ihrer Heimat in jenen Kleinstädten inhaftiert sind, wo Wärterjobs gebraucht werden, können ihre Familien sie nur selten besuchen. Anders, als der in den Vereinigten Staaten gebrauchte Begriff Supermax für Hochsicherheitsgefängnisse suggeriert, ist die entstehende Gewalt selbst hier nicht zu kontrollieren. Morde an Gefangenen werden auch in Hochsicherheitstrakten regelmäßig verübt. Der zweifache Mörder Richard Johnson etwa hat im Gefängnis zwei weitere Menschen umgebracht und zwei schwer verletzt. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Youngstown gelang es ihm 1998 bei der Rückkehr vom Hofgang in wenigen Minuten, sich seiner Handschellen und Fußfesseln zu entledigen, ein selbstgemachtes Messer aus seiner Zelle zu holen und dann einen gefesselten Mitgefangenen auf dem Gang zu töten, bevor die Wächter etwas bemerkten. Conover beschreibt in „Guarding Sing Sing“, warum Wärter so selten ihre gewalttätige Kollegen melden: Sie sind ihre einzige Chance, einen immer drohenden Angriff eines Gefangenen zu überleben.

Nicht die Wärter kontrollieren das Leben in Gefängnissen. Die Gangs tun es. Sie entscheiden, wer seine Zelle räumen muss, wer wieviel zu essen bekommt und wer überlebt. Wie weit ihre Macht reicht, zeigt die Liste von Gegenständen, die binnen eines Monats in der Zelle des lebenslänglich inhaftierten Ganganführers Ernest Wilson beschlagnahmt wurden: Ein Mobiltelefon, ein Game Boy, ein Pager, 230 Dollar Bargeld, 15,7 Gramm Kokain, 13 Flaschen Rasierwasser, eine tragbare Waschmaschine, ein tragbarer Farbfernseher, ein Bügeleisen, ein Jagdmesser. In Illinois sind in manchen Gefängnissen 97 Prozent der Gefangenen in Gangs organsiert. Die Gruppen rekrutieren hier ihre Mitglieder, die sie nach der Freilassung dann bei Straftaten einsetzen.

Das einzige Mittel gegen Gangs und Gewalt ist in amerikanischen Gefängnissen die Isolationshaft für besonders gewalttätige Gefangene in sogenannten special housing units. Wie eine Bundesrichterin 1999 in einem Urteil feststellte, sind diese „im Grunde genommen Brutkästen für Psychosen“. Connover hat Gefangene erlebt, die den Tag über mit Fäkalien im Mund am Sehschlitz ihrer Zelle warten, bis ein Wächter vorbeikommt, den sie anspeien können.

Es ist wenig bekannt, warum Alexis de Tocquevilles 1831 in die Vereinigten Staaten reiste. Bekannt ist nur sein damals entstandenes Werk „Über die Demokratie in Amerika“. Tocqueville war im Auftrag der französischen Regierung in Amerika, um das damals in Europa bewunderte Konzept der Besserungsanstalt kennenzulernen. Käme er heute von dieser Reise zurück – sein Werk würde anders heißen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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