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Zahlen aus dem Schafsbauch (Süddeutsche Zeitung, 20.5.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Zahlen aus dem Schafsbauch

Mit einem Sender im Pansen lassen sich Tiere von der Geburt bis zur Schlachtung verfolgen

Süddeutsche Zeitung, 20.5.2003

Für kranke Wiederkäuer gilt in Europa kein freier Warenverkehr. Doch die Kontrollen bei Tierseuchen sind bislang relativ leicht zu umgehen, weil Kühe, Schafe und Ziegen keine fälschungssicheren Ausweise besitzen. Das will die EU nun ändern: „Eine individuelle Identifikation des Tierbestands in der EU ist unerlässlich, um Subventionsbetrug zu verhindern und Gesundheitskontrollen zu verbessern“, sagt Forschungskommissar Philippe Busquin. Die Grundlagen dafür hat das Projekt IDEA geliefert (Identification Électronique des Animaux), das nun seinen größten Praxistest bestanden hat. Dafür wurde knapp eine Million Tiere in sechs EU-Staaten mit elektronischen Sendern ausgestattet, die individuelle, 16-stellige Identifikationsnummern funkten. Sie ließe sich bei jedem Grenzübertritt und natürlich vor der Schlachtung automatisch auslesen. 

In Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal, Spanien und den Niederlanden haben sich vier Jahre lang etwa 5500Helfer in gut 5000 Bauernhöfen, Schlachthäusern und Transportunternehmen an IDEA beteiligt. Sie testeten an den Tieren drei verschiedene Formen von Sendern: Ohrstecker, Kapseln im zweiten Magen der Wiederkäuer – wegen der Verdauungssäfte mit Keramik umhüllt – und unter die Haut injizierte Kapseln. Am robustesten erwiesen sich die Keramikkapseln. Sie können jungen Tieren eingesetzt werden, indem ein Arbeiter das Maul aufhält, während ein anderer die Kapsel hineinschiebt, bis das Tier schluckt, bei älteren Tieren werden dazu auch Metallsonden verwendet. Nach Untersuchungen in Spanien und Kanada behindern die Sender die Tiere nicht weiter: Deren Wachstum zumindest war im Vergleich zu Wiederkäuern ohne die Keramikkapsel nicht verlangsamt. 

Die Sender funktionieren als Transponder: Sie antworten mit ihrem Identifikations-Code nur dann, wenn sie ein bestimmtes Funksignal von einem Ablesegerät empfangen. Die nötige Energie erhalten sie ebenfalls aus den elektromagnetischen Impulsen des Lesers – ein Batteriewechsel an der lebenden Kuh ist also unnötig. Abfragen lassen sich die Daten derzeit aus maximal 20 bis 75 Zentimetern Entfernung, eine europaweite Echtzeit-Überwachung, etwa per Satellit, ist also nicht möglich. Entweder hält also der Bauer seinen Tieren einzeln das Lesegerät an den Bauch, oder sie werden zum Identifizieren durch einen engen Gang getrieben, zum Beispiel auf dem Schlachthof. 

Diese elektronischen Korridore funktionierten bei IDEA sehr gut. Mit ihnen ließen sich 100 Tiere in drei Minuten fehlerfrei identifizieren. Bei einem früheren EU-Projekt hatten die Entwickler nur maximal 100 Tiere in einer Stunde erfassen können und dabei im Mittel noch einmal einen Code falsch ausgelesen. Trotz der im Vergleich zu Ohrmarken aus Plastik teuereren Technik ist die neue Methode billiger: Schon bei einem früheren Experiment ließen sich fünf Euro pro Tier einsparen. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, aber wegen der höheren Lesegeschwindigkeit und niedrigeren Fehlerquote dürften sie noch besser sein. 

Außerdem sollen die Daten schneller und sicherer verarbeitet werden können. Dazu werden die Zahlen aus den Kuhmägen mit einem speziellen E-Mail- Verfahren an eine zentrale Datenbank geschickt: Welches Tier ist wann geboren, wohin transportiert und wo geschlachtet worden? Die Einträge darin sind nicht nur deshalb zuverlässig, weil die elektronischen Transponder weit schwerer zu manipulieren sind als Ohrmarken, sondern auch, weil fehlerhafte Datensätze vor dem Einspeisen in die Datenbank automatisch verbessert werden. 15 Millionen Datensätze sind bei dem Projekt bereits eingespeichert worden. 

Die zentrale Datenbank dürfte also schnell etliche hundert Millionen Einträge haben, denn ab Mitte 2006 macht die EU solche elektronischen Markierungen zur Pflicht. Verbraucherschutzkommissar David Byrne sagt: „Die Maul-und-Klauen-Seuche hat gezeigt, dass wir dringen Systeme brauchen, um die weitere Ansteckung verhindern. Dieses elektronische Markierungssystem ermöglicht es, schnell festzustellen, woher ein Tier kommt und wo es überall war. Es ist nun notwendig, dass in allen Mitgliedsstaaten die selben Anforderungen gelten.“

Ein Vorbild für das große Europa könnte der australische Bundesstaat Victoria sein: Er verpflichtet seit dem vergangenen Jahr mit seinem „National Livestock Identification Scheme“ die Bürger zur elektronischen Überwachung ihrer Kühe. Wenn man so will, ist es eine Synthese von zwei Romanen des englischen Schriftstellers George Orwell: das perfekte Überwachungssystem aus „1984“ angewandt auf die Tiergesellschaft aus „Animal Farm“.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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