Zensur auf Nachrichtenseite: Rebellion im Mitmach-Netz (Spiegel Online, 2.5.2007)
Zensur auf Nachrichtenseite
Rebellion im Mitmach-Netz
Die Nachrichtenseite Digg sperrt den Beitrag eines Nutzers – aus Angst vor Klagen der Filmindustrie. Doch die Mitglieder rebellieren. Nach 24 Stunden geben die Firmenchefs auf: Digg zensiert nicht mehr, auch wenn eine Millionenklage drohen könnte.
Spiegel Online, 2.5.2007
Bis gestern war die Nachrichtenseite Digg.com eine Vorzeigegeschichte des Mitmach-Internet. Das Prinzip: Nutzer bewerten und verlinken Nachrichten. Je mehr Punkte ein Link hat, desto höher die Aufmerksamkeit. Binnen weniger Monate ist Digg zu einer Institution geworden. Dort hoch gehandelte Geschichten bekommen so viel Aufmerksamkeit, dass die entsprechenden Internet-Seiten unter dem Leseransturm oft zusammenbrechen. Doch gestern brach Digg selbst zusammen – unter der Last seiner protestierenden Nutzer. Die Digg-Macher hatten versucht, eine Geschichte zu unterdrücken. Und die Nutzer schlugen zurück.
Und so wurde aus der Erfolgsgeschichte Digg binnen 24 Stunden eine beispielhafte Geschichte für die neue Macht der Nutzer im Mitmach-Internet. Schließlich liefern sie im Web 2.0 die Inhalt und die Aufmerksamkeit. Die 24 Stunden Digg-Zensur zeigen, wie schnell Web-2.0-Unternehmer ihre Nutzer enttäuschen und ihre Geschäftsgrundlage verlieren können.
Das Protokoll des Untergangs
Es beginnt am Montagabend gegen Viertel vor Acht: Manuel Amador Briz, ein 27-jähriger Wirtschaftinformatiker aus Ecuador veröffentlicht in seinem Blog den Code zum Knacken des Kopierschutzes von HD-DVDs und Blu-Ray-Discs. Diese Folge von 32 Zeichenpaaren versucht die Filmindustrie seit Wochen mit Unterlassungserklärungen aus dem Web zu tilgen. Betroffene bislang: Google, Wikipedia, unzählige kleinere Foren. Dabei ist der Code nicht nur für Raubkopierer interessant. Auch wer auf einem Linux-Computer legal erworbene HD-DVDs betrachten will, braucht ihn. Genau das will Wirtschaftinformatiker Briz. Und er sieht nicht ein, warum das verboten sein soll.
Deshalb reicht Briz den Link zu der Geschichte bei Digg ein. Er bekommt erste positive Bewertungen ("Diggs"), die Geschichte steigt schnell in der Digg-Hierarchie auf, gewinnt immer mehr Aufmerksamkeit. Und dann ist sie verschwunden, Digg sperrt Briz’ Zugang: "Sie sagen, ich hätte das System missbraucht, ich verstehe nicht warum", schreibt er um 20:20 Uhr.
"Jesus hat den Schlüssel"
Dann geht alles ganz schnell: Ein anderer Nutzer stellt die Geschichte wieder ein, um 21.09 hat sie 2000 Empfehlungen binnen 30 Minuten gesammelt. 20 Minuten später ist sie auf der Titelseite und plötzlich ist Digg offline. Nach einigen Minuten taucht eine neue, gesäuberte Version der Seite auf. Der Kampf zwischen Digg-Moderatoren und Digg-Nutzern eskaliert: Die ganze Nacht, den ganzen Dienstagmorgen über löschen Moderatoren Kommentare, Geschichten, Mitglieder-Konten.
Und die Nutzer stellen immer wieder neue Varianten der umstrittenen Geschichte ein. Die erfolgreichste davon stellt der Programmierer Chester Millisock ein: Von Montagabend bis Dienstagmittag sammelt sie fast 16.000 Diggs – bei der Empfehlungsgeschwindigkeit wäre das schnell die populärste Geschichte aller Zeiten auf Digg geworden. Bevor das passiert, löschen Moderatoren sie am Dienstag. Und schließen Chester Millisock als Mitglied aus.
Es beginnt ein Pingpong-Spiel: Bald ist die gesamte Digg-Titelseite überschwemmt mit nur mäßig getarnten Code-Geschichten wie: "Jesus hat den Schlüssel", "Das beste Mathematik-Rätsel", "Australische Kennzeichen". Immer wieder ist die Seite wegen der Last der Anfragen für einige Sekunden nicht zu erreichen.
Digg-Macher: "Müssen uns an das Gesetz halten"
Dann, um ein Uhr mittags, gut 17 Stunden nach Beginn der Zensur-Schlacht, kommt die erste offizielle Stellungnahme von Digg. Geschäftsführer Jay Adelson schreibt im kommentarfreien Digg-Blog: "Um zu überleben, muss Digg sich an das Gesetz halten." Man habe von den Rechteinhabern des Verschlüsselungscodes einen Hinweis bekommen, die entsprechenden Nachrichten zu entfernen. Damit Digg weiter arbeiten könne, müssten "alle zusammenarbeiten" und vor Prozessen schützen. Adelson schließt mit einem "Danke für euer Verständnis."
Doch dieses Verständnis fehlt den Digg-Nutzern. Neue Nachrichten, von Lesern schnell auf die Titelseite hochempfohlen, rufen zu einem Digg-Boykott auf. Die Nutzer schimpfen, drohen und einige recherchieren. Ein für die Digg-Macher peinliches Detail taucht auf: In einigen Episoden der Video-Show "DiggNation" taucht das Logo der HD-DVD Promotion Group auf. Ist also das Konsortium, das Google, Wikipedia und nun auch Digg mit Unterlassungserklärungen beharkt, ein Werbepartner der Firma hinter Digg?
Sorgen um die Zukunft der Firma
Das war zu viel. Gestern Abend um neun, 24 Stunden nachdem der Kampf zwischen Digg-Moderatoren und Digg-Machern begann, meldet sich der Firmen-Gründer Kevin Rose zu Wort. Im Firmen-Blog schreibt er: "Es war ein verrückter Tag." Er erklärt noch einmal das Verhalten der Moderatoren, beschreibt die Sorge um die Zukunft der Seite und der Firma.
Und dann kommt Rose zu diesem Schluss: Nicht er, sondern die Nutzer hätten über die Zukunft zu bestimmen. "Jetzt, nach Hunderten von Geschichten und Tausenden von Kommentaren, habt ihr es klar gemacht: Ihr wollt Digg lieber kämpfend untergehen als vor einer größeren Firma einknicken sehen." Und so soll es laut Rose sein: "Wir werden ab sofort Geschichten und Kommentare mit dem Code nicht mehr löschen und uns mit allen möglichen Konsequenzen auseinandersetzen."
Digg verliert den Kampf
Eine andere Entscheidung könnte sich Digg kaum erlauben. Die Seite würde dann sofort Leser verlieren, wahrscheinlich auch die aktivsten und wichtigsten Zuträger. Denn Digg hat seinen Nutzern immer versprochen: "Digg ist digitale Medien-Demokratie." So steht es in der Digg-Selbstbeschreibung. Eine Konsequenz daraus ist, dass Nutzer sehr empfindlich reagieren, wenn ihre Beiträge zensiert werden. Beiträge, die das Kapital von Mitmach-Seiten wie Digg sind. Kapital, das die Nutzer ihnen kostenlos zur Verfügung stellen.
Kevin Rose beendet seinen Kommentar mit dem pathetischen Satz. "Wenn wir verlieren – was soll’s – dann sterben wir wenigstens kämpfend." Er meint den Kampf mit den Rechteinhabern das HD-DVD-Schlüssels. Den Kampf mit seinen Nutzern hat Rose gestern in nur 24 Stunden verloren.