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Zuhause im Hirn (Süddeutsche Zeitung, 3.3.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Zuhause im Hirn

Oliver Grau studiert die Techniken und Effekte der Virtuellen Realitäten – vom Kultraum in Pompeji ins Wilhelminische Panorama

Süddeutsche Zeitung, 3.3.2001

Künstler und Kunstbetrachter wollen eigentlich nur das eine: in Werken herumlaufen. Die Idee der Virtuellen Realität ist eine Konstante der Kunstgeschichte, sichtbar schon im Jahr 60 vor Christus. Wandmalereien, Deckenpanoramen und der Datenhandschuh – alles Manifestationen des Strebens nach Verschmelzung von Bild und Betrachter. Das ist zumindest die These des Kunsthistorikers Oliver Grau in seinem neuen Buch. Mühsames und ermüdendes Belegen erspart er sich und den Lesern mit dem Hinweis, es gehe nur um eine Idee, nicht ums Gleichsetzen von Fresko und Datenhelm.

Anschaulich macht Grau die Idee der Immersion in einem kurzen Querschnitt durch die Kunstgeschichte: In Pompeji bedeckte ein Fries die Wände des Kultraums der Dionysosgemeinde. Die Szene füllte das Gesichtsfeld des Betrachters aus, um ihn „mit der mythischen Szene räumlich zu verschmelzen“. Deckenbilder in Barockkirchen sollen Himmel und Kirchenraum in einer Wirklichkeit zusammenführen. Und Monet ließ das Ufer in seinen Bildern verschwinden, um den Betrachter distanzlos in die Wasserlandschaft gleiten zu lassen. Ein wenig detaillierter hätte Grau auf die digitalen Bildwelten im aktuellen Kino eingehen können. Aber für die Idee reicht das. Was Grau mehr interessiert, sind Parallelen und Unterschiede in der Produktion und Rezeption heutiger und vergangener Virtueller Realitäten (VR) in der Kunst. Das Beziehungsgeflecht zwischen Künstler, Betrachter und Werk analysiert er anhand zweier Werke: das Panorama Die Schlacht von Sedan von 1883 und die VR-Installation Home of the Brain von 1991.

Die aufgedeckten Parallelen verblüffen. So wurde die Entwicklung der Panoramatechnik im 19.  Jahrhundert durch eine ähnliche Börseneuphorie ermöglicht und finanziert wie die des Internets und Virtueller Realitäten in jüngster Vergangenheit. 20 Panorama-Aktiengesellschaften gab es 1884 allein in Belgien, ein Jahr später waren die meisten pleite. Die Abhängigkeit von Auftraggebern und Sponsoren ist bei VR-Künstlern des 20. und 21. ebenso groß wie bei jenen des 19. Jahrhunderts. Eine Million Goldmark kostete die Realisation des 115 Meter langen Sedan-Rundgemäldes. Vor allem wegen der benötigten Hochleistungscomputer kostete Home of the Brain weit über eine Million Mark. Die Technik nimmt dem Künstler viel seiner Schöpferkraft. Die kreative Produktion muss industrialisiert werden. Am Sedan-Panorama arbeiteten 14 Detailmaler, an Home of the Brain unzählige Programmierer und Grafiker.

Was der Künstler an Macht über das Werk verliert, gewinnt der Betrachter. Meint man. Grau hingegen analysiert das Sedan-Panorama: „Das Bildgeschehen wurde gegenüber dem Betrachter entgrenzt und jenem kalkuliert und kontrolliert aufgezwungen.“ Für die Wilhelminische Schlachtenkunst mag das ja gelten, aber für die Computerkunst der Gegenwart? In Installationen wie Home of the Brain ist die Perspektive auf das Werk frei vom Betrachter wählbar. Raum wird nicht durch Illusionismus suggeriert, sondern mittels Datenhelm und -handschuh erfahren. Einschränkungen hierbei sind allein auf die noch unausgereifte Technik zurückzuführen, urteilt Grau. Das eigentliche Problem sei, dass der Betrachter auch in moderner VR nur aus bereits Vorhandenem wählen könne statt selbst Neues zu schaffen oder Vorhandenes zu ändern.

Graus Fazit ist angenehm unaufgeregt: Natürlich nähre das auf den einzelnen zugeschnittene „Illusionsmedium Virtuelle Realität“ mit seinen kontrollierbaren Freiheitsgraden die „Gefahr der Manipulation“. Grau betont aber ebenso die Einmaligkeit der heutigen technischen Möglichkeiten. Der Betrachter hat heute die „ausgeprägteste formende Macht über das Bild“ und steht zugleich „dem bislang höchsten Suggestionspotential eines nunmehr dynamischen Bildes“ gegenüber. So richtig das „Macht was draus“ ist – ein wenig fehlt die Problematisierung der Technik. Implizit schreibt Grau ja ihrer Entwicklung schöne Dinge wie die Emanzipierung des Rezipienten zu. Und da widerspricht er seiner eigenen Darstellung. Aber wer das merkt, verdankt Graus wichtigem Buch schon einiges.

OLIVER GRAU: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001. 302 S., 59 Mark.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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