Zukunft der Medien: Eine Welt ohne Presse (Spiegel Online, 20.2.2009)
Zukunft der Medien
Eine Welt ohne Presse
Zeitschriften sterben, US-Zeitungshäuser beerdigen Regionalblätter – und die Zielgruppe lässt das völlig kalt. Viele Leser halten das Modell Presse für überholt. Aber wie würde eine Welt ohne Journalismus klassischer Prägung aussehen? Ein Szenario.
Spiegel Online, 20.2.2009
An dem Tag, als der Verlag Condé Nast sein deutsches
Prestige-Magazin "Vanity Fair" einstellte,
waren die Aktien der "New York Times" auf einem neuen Tiefstand. Ein
Anteilsschein der renommiertesten Tageszeitung der Welt kostete am
Mittwoch 13 Cents weniger als die Sonntagsausgabe des Blatts, die für
vier US-Dollar verkauft wird. Die Anzeigeneinnahmen brechen weg, die
Presse ist in einer Krise, die in den USA existenzbedrohende Ausmaße
angenommen hat.
Der Tenor vieler Leserbriefe und -kommentare zu diesen Meldungen: Na und?
Wie schlecht das Ansehen der Presse ist, illustriert dieser Satz aus einer Leser-E-Mail zum Artikel "
Zeitung als Shareware?": "Jetzt kommt die Quittung. Alles Alte verschwindet. Tageszeitungen gehören dazu wie fossile Autos. Einfach weg."
Bemerkenswert bei diesen Kommentaren ist, dass die Ablehnung sich
nicht gegen spezielle Produkte oder Vertriebsformen richtet. Die
leidige Print-Online-Debatte ist für die Leser gar nicht relevant – sie
halten die traditionellen Medien insgesamt für überholt. Abfällig
äußern sich Leser über "Mammutverlage", Produkte, die "halt für die
Massen produziert" werden und Medienmacher, die sie für "abgehoben und
arrogant" halten.
Einmal angenommen, es käme so. Einmal angenommen, die Massenpresse
würde einfach verschwinden – wie könnte der Alltag in so einer
Gesellschaft aussehen? Drei Gedanken zur Welt ohne Massenpresse.
1. Nur Massenpresse schafft Öffentlichkeitsdruck
Fangen wir ganz klein an, in Essen Kray-Leithe zum Beispiel: Da
regen sich die Anwohner einer Busendhaltestelle seit Jahren darüber
auf, dass die Busse dort mit laufendem Motor vor Wohnhäusern parken,
während die Fahrer Pause machen. 1993 empfahl der Petitionsausschuss
des Landtags, die Haltestelle zu verlegen. Die Bezirksvertretung der
Stadt hat das seitdem immer wieder mit wechselnden Argumenten abgelehnt.
Wie mache ich der Stadtverwaltung Druck?
Es gibt sicher zigtausend solcher Fälle in deutschen Gemeinden: Eine
Straße, ein Haus, vielleicht auch nur eine Familie ist unmittelbar
betroffen, das Druckpotential daher recht klein im Vergleich zu Fällen,
die weit mehr Menschen unmittelbar angehen (Autobahnbau,
Umgehungsstraße usw.).
Also machen die Krayer, was Betroffene in solchen Fällen fast immer
machen: Sie schreiben der Lokalzeitung und die macht eine
Aufregergeschichte daraus. Der Mechanismus ist so alt wie die
Massenmedien: Ein Aufreger erzählt exemplarisch die Geschichte der
ignoranten Bürokraten, die auf die Meinung von ein paar Bürgern wenig
geben. Das ärgert dann alle Leser und schafft eine mittelbare
Betroffenheit.
Diese Methode funktioniert oft recht gut. Selbst wenn die Leser gar
nicht aktiv werden, glauben die kritisierten Behörden, Unternehmen oder
Institutionen, es nun mit einer kritischen Masse aufgeregter Bürger zu
tun zu haben, auch wenn sie das nur mediatisiert als einen Artikel in
einem Online-Medium, einer Zeitung oder einem Magazin wahrnehmen. Der
oft bemühte Druck der Öffentlichkeit ist letztlich vermittelt –
direkten Kontakt haben die betroffenen Instutionen oder Unternehmen nur
mit Medienvertretern.
Die Methode Leserbrief
Man muss als Betroffener also gar nicht viele Menschen dazu bringen,
aktiv etwas zu tun – die Wahrnehmung, dass da draußen nun eine
kritische Masse ist, reicht oft als Druckmittel. Bei der Endhaltestelle
in Kray-Leithe zum Beispiel sagten dann auch gleich die von der Regionalzeitung angefragten Lokalpolitiker, es "dürfe nicht am Geld scheitern", die "Linie zu verlegen".
Im Web hört man nur die aktiv Protestierenden
Was könnte den Mechanismus Öffentlichkeitsdruck ersetzen, wenn die
Massenpresse als Vermittler fehlt? Es gibt einige interessante Ansätze,
Bürger übers Netz auch für kleine, lokale Belange zu aktivieren. In
Großbritannien zum Beispiel versucht eine Stiftung, über das Portal
"MySociety" Bürgern eine Handhabe bei kleinen, lokalen Problemen zu
geben. Unter Fixmystreet.com
können Betroffene Ärgernisse wie Schlaglöcher oder defekte Laternen
melden, Kontaktmöglichkeiten für die verantwortlichen Behörden
einstellen und dokumentieren, wer sich schon beschwert hat.
Solche Projekte setzen drei Dinge voraus, damit die verantwortlichen
Behörden eine kritische Masse wahrnehmen: Die Bürger müssen die Seite
kennen, auf der sie ihren Protest kundtun. Sie müssen dazu idealerweise
alle dasselbe Forum verwenden. Und sie müssen aktiv ihre Meinung
äußern.
Bleibt nur das Problem, dass Nutzer ein Angebot wie
Fixmystreet
nur aufrufen, wenn sie selbst ein akutes Anliegen haben und dann auch
nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nach Mitstreitern und anderen
Ärgernissen suchen. Die Öffentlichkeit ist hier per Definition
zersplittert. Das hier jemand aus einem anderen Stadtteil das
Busproblem in Kray-Leithe bemerkt und sich über die Bürokratie ärgert,
ist wenig wahrscheinlich.
Bei einem Artikel in der – lokalen – Massenpresse genügt die
Veröffentlichung an sich, um bei Politikern und Verwaltungsangestellten
den Eindruck einer informierten, kritischen Öffentlichkeit
herzustellen. Das kann sich natürlich ändern, wenn einmal ein
Online-Forum für organisierten Protest groß und bekannt genug ist, um
auch der Lokalpolitik ein Begriff zu sein. Vielleicht genügt dann eine
Veröffentlichung dort, um Politiker nervös werden zu lassen.
Fazit: Wenn Mittler wie
MySociety
so etwas wie Massenmedien werden, könnten sie eine ähnliche
Kontrollfunktion erfüllen wie die Massenpresse heute. Nur würde gerade
das ihrem extrem lokalen und individualisierten Prinzip widersprechen.
2. Medienmacher definieren, welche Fakten relevant sind
Der
Streit um die von Facebook geänderten Nutzungsbedingungen zeigt, wie im Netz eine relevante Information öffentlich wird. Die Änderung der AGB kündigte
Facebook-Anwältin Suzie White
schon am 4. Februar im Firmenblog an. Dass aber bei diesem Prozess ein
entscheidender Absatz aus dem Rechtstext verschwand und Facebook sich
so die Rechte an den Daten seiner Mitglieder für alle Ewigkeit
sicherte, bemerkte erstmal niemand. Das änderte sich am 15. Februar,
als US-Verbraucherschützer in ihrem Blog Consumerist darüber berichteten – Titel: "Wir können mit euren Daten machen, was wir wollen. Für immer."
Wir brauchen einen Grundkonsens, was relevant ist
Dieser Blogeintrag landete auf der Titelseite der
Community-News-Plattform Digg, ein Blog des "Wall Street Journal" griff
ihn auf und am Montag stand die Geschichte in allen relevanten
Online-Medien und die erstes Mitglieder der Protestgruppe auf Facebook
schrieben ihre wütenden Kommentare.
Der Fall zeigt: Eine frei verfügbare Information wird nicht
zwangsläufig zu einer Nachricht. Sie kann auch tagelang im Netz stehen,
bis jemand den Nachrichtenwert erkennt, formuliert, die Relevanz des
Ganzen einschätzt – wie der Consumerist im Fall von Facebook. Dasselbe
Prinzip kann man auch im Lokalen, bei Auslandsthemen und in allen
Ressorts beobachten. Hier kommt eine Schwierigkeit hinzu: Es gibt nicht
auf jedem Gebiet und in jeder Region der Welt Organisationen mit
eigenen Blogs wie den Consumerist.
Blogs funktionieren nach dem Schema Massenpresse
Dass die Nachricht vom Consumerist von dort aus dann so schnell die
Runde gemacht hat, hängt sicher damit zusammen, dass viele Blogger,
Journalisten und bloggende Journalisten den Consumerist lesen. Das Blog
hat im Durchschnitt eine halbe Million Besucher täglich, dazu kommen
mit Sicherheit eine Menge nicht ausgewiesene Leser, die das Blog per
RSS-Feed verfolgen, aber nie die Seite aufrufen.
Das bedeutet: Consumerist hat mehr Leser als manche überregionale
deutsche Tageszeitung Abonnenten und funktioniert somit online nicht
anders als ein Massenmedium. Dass ein Unterschied zwischen manchen
Blogs und Online-Massenmedien kaum trennscharf zu definieren ist,
debattieren derzeit viele Autoren im
Web.
Fast alle Durchlauferhitzer und Multiplikatoren der vom Consumerist
bearbeiteten Facebook-Nachricht funktionieren nach dem Schema
Massenpresse: Egal ob "Wall Street Journal" oder SPIEGEL ONLINE – hier
veröffentlichen wenige Autoren für viele, anonyme, unbestimmte, sozial
und geografisch verstreute Leser. Nur die Community-News-Plattform Digg
funktioniert ein wenig anders, allerdings hat sie bei der
Facebook-Meldung lediglich vorhandenes Material weiterverwendet und
zudem bei der Verbreitung keine herausragende Rolle gespielt.
Fazit: Der Grundkonsens, was relevant ist, entsteht heute im Web
im Prinzip nach dem alten Massenpresse-Prinzip. Es gibt keinen
Mechanismus, der die Relevanz frei verfügbarer Informationen erkennt –
das übernehmen Menschen. Und sie finden Gehör, wenn sie sich in einem
Medium vor einem leidlich großen, unbestimmten Publikum äußern. Ohne
Massenpresse hätte so schnell niemand die Brisanz der Facebook-AGB
erkannt oder von der umstrittenen Entfernung einer israelischen Fahne bei einer Demonstration in Duisburg erfahren, über die zuerst das von Journalisten betriebene Blog
Ruhrbarone schrieb.
3. Veranstaltungen und Vereine sind kein Thema für die Presse mehr
In den siebziger Jahren entstanden in vielen deutschen Großstädten
Stadtmagazine, weil die Presse vor Ort einfach nicht über das
berichtete, was viele Menschen unter 30 interessierte: die sogenannte
Alternativkultur. Das meiste davon ist heute Mainstream, nur muss heute
kaum jemand Stadtmagazine lesen, um zu wissen, welche Konzerte, Partys
und Lesungen wann und wo stattfinden.
Seit Jahren schickt so gut wie jeder Club zielgruppengenau per
E-Mail sein Programm an alle Interessierten. Musikcommunitys empfehlen
Mitgliedern passend zum Musikgeschmack Konzerte, listen auf, was die
eigenen Freunde interessiert und wer wohin geht. Bei solchen
Informationen sind Soziale Netzwerke wie LastFM, Facebook und sogar
StudiVZ den traditionellen Medien weit überlegen – man interessiert
sich ja nur für einen kleinen Anteil all der Dinge, die in der eigenen
Stadt passieren. Höchstwahrscheinlich für jenen kleinen Anteil, der
auch die eigenen Kollegen begeistert. Den Wettbewerb auf diesem Terrain
könne auch die engagiertesten Lokalzeitungsredaktionen nicht gewinnen.
Ihre Stärke ist nicht die Veröffentlichung kompletter
Veranstaltungslisten oder gar die zielgenaue Empfehlungen für einzelne
Leser, sondern eine überraschende Auswahl und ein streitbares Urteil.
Genauso ist es im
Grunde genommen auch mit den Vereinsnachrichten, die viele
Lokalzeitungen füllen. Ein zynischer Journalistenwitz erzählt, dass man
einmal im Jahr nur mindestens ein Foto jedes Vereinmitglieds abdrucken
müsse, um eine Lokalzeitung zu verkaufen – die Leser würden abonnieren,
um das eigene Foto nicht zu verpassen. Solche Inhalte waren eigentlich
immer schon user generated content – kein Wunder, dass Web-Plattformen
wie Meinverein dieses Prinzip heute ohne Druck- und Personalkosten für
Journalisten monetarisieren wollen.
Einen Schritt weiter gehen gedruckte Gratismedien wie die in
einigen Gemeinden Nordrhein-Westfalens verbreiteten
"Informer"-Magazine: Die Anzeigenblätter fordern Vereine,
Geschäftsleute, Politiker, und Bürger auf, die Seite einfach selbst
online mit Fotos und Texten zu füllen – " Open magazine, ein modernes Medium im klassischen Gewand" heißt das Konzept.
Fazit: Zur Verbreitung von Veranstaltungshinweisen,
Vereinsnachrichten und Verlautbarungen gibt es bessere Kanäle als die
traditionellen Medien. Was immer weniger Menschen unmittelbar und kaum
jemanden mittelbar betrifft oder interessiert, ist in einem Medium für
ein großes und heterogenes Publikum fehl am Platz.