Zukunft ohne Helden (Süddeutsche Zeitung, 19.10.2000)
Zukunft ohne Helden
Die digitale Revolution frisst ihre Kinder – und zuerst das Kino
Süddeutsche Zeitung, 19.10.2000
Der letzte Versuch eines Geruchfilms war ein Witz. 1981 präsentierte John Waters seinen „Polyester“ im sogenannten Odorama-Verfahren. Wenn eine Zahl auf der Leinwand erschien, mussten die Zuschauer auf Pappkarten entsprechende Felder aufrubbeln. Zum Beispiel dann, wenn sich jemand die Schuhe auszog. Worüber man mit Waters noch lachen konnte, war 1983 schon nicht mehr lustig. Da versuchte sich George Lucas an der Perfektionierung eines anderen Sinneseindrucks im Kino. Sein THX-System versprach ein neues Klangerlebnis, was beim Start von „Rückkehr der Jedi-Ritter“ 1983 auch in den wenigen THX-Kinos eingelöst wurde.
Im Vergleich zu anderen Kunstformen zielte Film schon immer auf möglichst intensive Sinneseindrücke und möglichst viele Sinne. So ist seine Geschichte auch mindestens so sehr von technischen wie von künstlerischen Innovationen geprägt. So zeichnet sich nach Ton und Farbe nun schon seit einigen Jahren die Digitalisierung als nächster Evolutionssprung des Kinos ab. In „Jurassic Park“ waren 52 Einstellungen im Computer erzeugt, sogenannte computer generated images (CGI); in „Titanic“ waren es schon 500; und in „Star Wars Episode I“ sind über 2 000 Einstellungen zum Teil oder ganz im Computer entstanden – etwa 95 Prozent des Films.
Filmtheoretiker wie André Bazin und Siegfried Kracauer betonten die dokumentarischen und materiellen Qualitäten des Films. Liefert aber der Computer tatsächliche ein so anderes Rohmaterial als das Zelluloid? Oder ist der Unterschied nicht doch nur, dass CGI Bilder ermöglicht, die auf mehr Wirklichkeiten verweisen können? Wirklich neu für den Film ist die Demokratisierung und Individualisierung des Produktes, welche die Digitalisierung verspricht. Jonathan Wells, Leiter von Resfest, dem Festival für digitalen Independent-Film, glaubt: „Grundsätzlich kann man alles mit einem Desktop-Computer machen – und die Filmemacher nutzen das.“
Ein Beispiel ist der Kurzfilm „405“. Er zeigt, wie ein Jumbo auf dem Los Angeles Highway 405 landet und ein Autofahrer dem Flugzeug zu entkommen versucht. Die Produktion hat kaum Geld gekostet. Mit handelsüblichen digitalen Video-Kameras wurden die Hauptdarsteller gefilmt – Flugzeug, Jeep und Highway sind zum Teil auf Basis von Fotos komplett auf einem Computer animiert. Je billiger Rechenkraft wird, desto mehr scheint der Film als Kollektivprodukt in Gefahr: „405“ haben gerade mal zwei Menschen geschaffen. Digitale Technik wird in einigen Filmbereichen einen Autor ermöglichen, der Regisseur, Drehbuchautor, Produzent, Kameramann und Schauspieler zugleich ist. Je billiger die Soft- und Hardware wird, desto mehr solcher Autoren werden auftauchen. Schon heute bieten Internetseiten wie ifilm.com eine ungeheure Menge an Kurz- und Langfilmen, die ohne die von Orson Welles fürs Filmemachen proklamierte Armee entstanden sind.
Eine solche Demokratisierung – an deren Ende vielleicht die Produktion von Individuen für Individuen steht – gefährdet aber auch die kulturelle Definitionsmacht des Films. Ein Prozess, der vergleichbar mit den Prognosen zur Zukunft der Zeitung ist: Wenn der Mensch aus einer ungeheuren Vielfalt auswählen kann, welche Informationen er beziehen will, ist der Diskurs in der Gesellschaft gefährdet, weil keine gemeinsame Basis mehr besteht.
Das zweite Feld der digitalen Revolution ist dabei der Vertrieb. Bodenständige Visionen beschreiben das e-Cinema der Zukunft so: Filme kommen als verschlüsselte Datenpakete über Satelliten vom Verleiher- auf den Kino-Server. Das mache Kinobetreiber viel flexibler bei der Programmgestaltung: Wenn bis Samstag kaum jemand den neuen Oliver Stone Film sehen will, wird er halt kurzfristig durch Wolfgang Petersen ersetzt. Eine Retrospektive anlässlich des neuen Scorsese-Films wird in wenigen Minuten bestellt und auf den Server des Filmkunsttheaters übertragen sein. So die Utopie– aber diese Vorstellung ist ein wenig naiv. Denn in einer nahen Zukunft mit solchen Übertragungskapazitäten wird es ebenso unproblematisch sein, die Filme gleich zum Zuschauer selbst zu übertragen statt auf dem Umweg übers Kino. Warum sollte die Individualisierung vor dem Kollektiverlebnis halt machen?
Das so genannte Home Cinema wird immer mehr aufgerüstet: Breitbildfernseher, Plasmabildschirme, Dolby-Surround-Anlagen, DVD-Spieler versprechen immer perfektere Sinneseindrücke, die letztlich auf Kinoqualität abzielen. Logische Konsequenz dieser Entwicklung ist doch, dass Studios ihre Produkte direkt an den Zuschauer verkaufen.
Anfang April luden sich 1,7 Millionen Menschen binnen 24 Stunden die ersten Ausschnitte aus Peter Jacksons „Herr der Ringe“ von der Internetseite auf ihre Computer. Noch ist das Internet zu langsam für die Übertragung kompletter Spielfilme in annehmbarer Qualität. Das ist aber nur eine Frage der Zeit. Was dann daraus für den Inhalt des Film folgt, hat „Star Wars Episode I“ gezeigt. Kritiker warfen Lucas vor, er habe eher ein Computerspiel als einen Film geschaffen. Der Zuschauer soll vor allem das Gefühl kriegen, im Mittelpunkt dieser fremden Welten zu stehen. Ein allzu starrer, linearer Plot hätte diesen Eindruck zerstört, selbst Herr dieses Universums zu sein. Da wirkt der Versuch, die Zuschauer am Fortgang der Geschichte zu beteiligen – wie zum Beispiel beim Internetprojekt www.itsyourmovie.com – fast antiquiert.
Der Film der Zukunft wird eher einem Wandeln durch perfekte Realitäten gleichen. Bereits 1997 zogen in den USA die Umsätze der Computerspielindustrie mit denen der Filmstudios fast gleich. Da ist es wehmütige Ironie, dass Lara Croft – Heldin des Computerspiels „Tomb Raider“ – überhaupt noch durch eine lebendige Schauspielerin (Angelina Jolie) verkörpert werden soll. Ein letzter Versuch des Kinos, das Publikum durch eine so analoge Technik wie die Identifikation zu beteiligen. Die Zukunft braucht keine Helden mehr – da ist dann jeder sein eigener Held.