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Zum Tod von Gary Gygax: Der Herr der Dungeons (Spiegel Online, 5.3.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Zum Tod von Gary Gygax

Der Herr der Dungeons

Gary Gygax hat schon virtuelle Realitäten geschaffen, als Computer noch groß wie Kühlschränke waren. Er entwarf das erste Regelwerk für Rollenspielrunden – das zur Blaupause für Computerspiele wurde. Und zur Bibel für Nerds.

Spiegel Online, 5.3.2008

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Gary Gygax hat nie ein Computerspiel programmiert, keinen Heimcomputer entworfen, keine Onlinewelt aufgebaut. Und doch wäre ohne ihn die Computerspiel- – und vielleicht sogar die IT-Welt – heute eine andere. Der gestern in Lake Geneva bei Chicago verstorbene Gygax hat in den frühen siebziger Jahren das erste kommerzielle Rollenspiel mitentwickelt.

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Bei Dungeons & Dragons (D&D) entstand die virtuelle Realität der Spielwelt mit Hilfe von Papierkarten, Regelbüchern, Würfeln und einem menschlichen Spielleiter. Generationen von Programmierern wuchsen mit D&D auf – und versuchten dann voller Enthusiasmus, die D&D-Erfahrung am Computer wiederzuerschaffen. Ohne Gygax wären Fantasy-Rollenspiele wie “Ultima” und Online-Rollenspielwelten wie “World of Warcraft” kaum vorstellbar.

Das von Gygax und Dave Arneson geschaffene D&D-System ist das wohl interaktivste Spiel überhaupt. Ein menschlicher Spielleiter beschreibt den Spielern die Welt, in der ihre Charaktere unterwegs sind. Er verkörpert alle Figuren, auf die sie treffen, erzählt den Spielern, wie die Phantasiewelt auf ihr Handeln reagiert. Keine Software kann einen kreativen Spielleiter übertreffen. Denn gleich, wie absurd die Spieler agieren mögen – einem guten Spielleiter wird schon eine stimmige Reaktion einfallen.

Ein Regelsystem, mehrere Würfel und die numerisch festgehaltenen Stärken, Kenntnisse und Fertigkeiten der Charaktere geben dem Spiel eine objektive Basis und ein gewisses Zufallsmoment. Das erste dieser Regelsysteme hat Gary Gygax geschrieben und verkauft. Der 1938 geborene Gygax war schon vor dem Herr-der-Ringe-Boom, der in den sechziger Jahren die USA erfasste, ein Fantasy-Fan – sein Vater, ein Schweizer Einwanderer (über die Herkunft seines Namens spricht Gygax im Video unten) und Violinist bei den Chicagoer Symphonikern, hatte ihm Fantasy-Romane vorgelesen.

Gygax studierte kurz in Chicago Anthropologie, arbeitete dann als Versicherungsagent und spielte leidenschaftlich sogenannte “Konfliktsimulationen” (Kosim), bei denen mit Miniaturen auf Landkarten Schlachten nach Regelbüchern nachgestellt werden.

Dieses Hobby machte Gygax Anfang der siebziger Jahre zum Beruf: Mit Dave Arneson, den er bei Kosim-Treffen in Lake Geneva kennenlernte, entwarf er ein neues Spiel für eine mittelalterlich anmutenden Fantasywelt mit Verliesen, Burgen, Mooren und Ungeheuern. Gygax gründete mit zwei Partnern 1973 die Firma TSR. Sie stellten die ersten 1000 D&D-Boxen selbst zusammen. Neben den gedruckten Regelbüchern kamen noch die speziellen D&D-Würfel mit 4, 6, 8, 12 und 20 Seiten dazu.

Rollenspiele brachten Millionen

Dungeons & Drageons wurde zum Bestseller, und TSR machte Millionenumsätze – “Der Herr der Ringe”, ein Kultbuch in den Vereinigten Staaten der Sechziger, hatte offenbar das Feld bereitet. Tolkiens erklärtes Ziel war es ja gewesen, nicht nur einen Roman, sondern als Weltenschöpfer Geschichte zu schreiben, die Geschichte der verschollenen Welt namens Mittelerde. Bevor er die Ring-Romane schrieb, entwarf Tolkien die Sprachen, schrieb die Geschichtsbücher und zeichnete die Karten dieser Welt.

Die Leser verzehrten sich nach Mittelerde – da war ein interaktives Spiel zum Erkunden solcher mittelalterlichen Szenarien eine logische Fortsetzung. Die lieferte D&D: Hier konnten Spieler durch virtuelle Fantasy-Welten laufen, gegen Drachen kämpfen und Feuerbälle werfen, in die Fantasy-Welt eintauchen, sich in ihr bewegen, wie es heute in guten Compterspielen möglich ist.

Anfang der Achtziger kam die deutsche D&D-Übersetzung

D&D wurde schnell zum weltweiten Phänomen: In Großbritannien verlegten schon 1975 Ian Livingstone und Steve Jackson eine D&D-Ausgabe. Eine deutsche Übersetzung erschien laut Wikipedia im November 1983. 1984 erklärte ein Geschäftsführer des Lizenznehmers dem SPIEGEL zuversichtlich: “Drei Millionen Mark Umsatz sind bis zum Jahresende drin.” Es sah für kurze Zeit sogar so aus, als könnten papierbasierte Rollenspiele den Computerspielen Konkurrenz machen: “Das freie Spiel der Phantasie scheint auch den vorprogrammierten Spaß auf dem Bildschirm zu verdrängen”, schrieb der SPIEGEL.

Doch die echten D&D-Fans sahen die auf Papier und Würfel beruhenden Rollenspiele nie als Ersatz für Computerspiele. Sie dienten demselben Zweck, eine möglichst interaktive Weltsimulation zu schaffen. Der einzige Unterschied: Für ein gutes Rollenspiel müssen sich alle Spieler zum selben Zeitpunkt zusammenfinden – der Computer ist immer verfügbar.

D&D-Fans programmierten die ersten Computerspiele

Viele Schöpfer der ersten Computerspiele hat Dungeons & Dragons inspiriert. William Crowther und Don Wood zum Beispiel schufen Mitte der siebziger Jahre das erste Textadventure überhaupt. In Adventure erforscht der Spieler eine Höhlenwelt, die den D&D-Verliesen sehr ähnelt. Der Adventure-Spieler ist im Dialog mit dem Computer wie D&D-Spieler mit ihrem Spielleiter.

Auch das erste Online-Spiel, das Ende der siebziger Jahre an der Essex University programmierte MUD, war von D&D inspiriert. Die Studenten Roy Trubshaw und Richard Bartle, beide D&D-Spieler, wollten eine Spielwelt schaffen, in der sich mehrere Spieler zugleich von verschieden Rechnern aus bewegen können – ein Multi User Dungeon eben, eine sehr frühe Form des Spielprinzips heutiger Bestseller wie etwa World of Warcraft.

Gygax sah Computer als Ergänzung für D&D

Das Genre des Computer-Rollenspiels hat der in Texas aufgewachsene Spieldesigner Richard Garriott geprägt. Der erste Teil seiner legendären Ultima-Rollenspielserie programmierte er 1979, noch als Schüler. Ultima 1 – Akalabeth erschien für einen der ersten Heimcomputer überhaupt, den Apple II. Garriott leitete damals als Spielleiter die D&D-Partien einer Spielergruppe. Er hat später auch eines der ersten Online-Spiele entwickelt: Ultima Online, das seit 1997 besteht.

Gary Gygax hat Computer-Rollenspiele nie als Konkurrenz zu Dungeons & Dragons gesehen. 2003 erklärte er in einem Interview Kcgeek.com, warum man die beiden Spielsituationen nicht vergleichen könne: “Solange es keine direkte Kommunikation zwischen dem Spielleiter und den Spielern gibt und diese Kommunikation die Entscheidungen des Spielleiters beeinflusst, ist kein nennenswertes Rollenspiel zu sehen, obwohl Computerspieler natürlich gewisse Rollen annehmen und in den Grenzen des vorgegebenen Charakters spielen.”

Gygax war aber keineswegs ein Technik-Skeptiker. Im Gegenteil, er hoffte auf die Zukunft. Gygax sagte 2003: “Online-Sspiele werden sich verändern, wenn die Audio- und Videoverbindungen zwischen den Spielern gut genug sind.” In diesem Juni könnte es soweit sein – die angekündigte vierte Fassung des D&D-Regelwerk soll angeblich Online-D&D-Partien unterstützen.

Das wird Gary Gygax nicht mehr erleben. Er starb am Dienstagmorgen in seinem Haus in Lake Geneva, wo er noch im Januar D&D-Spielrunden leitete.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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