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Statt der Arbeit

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen
Statt der Arbeit

Von wegen Fabrikvorstadt: Agrarlandschaft, Dienstleistungszentrum, Kulturmetropole – seit 150 Jahren erfindet sich Essen ständig neu. Eins
blieb gleich: Die Stadt wuchs mit den Träumen der Zugezogenen.

Essens Image konnte nur besser werden. 1924 charakterisierte der große Reporter Egon Erwin Kisch die Ruhrmetropole besonders böse, schenkte Essen kein einziges Wort und sagte doch alles über die Stadt: „Kaum eine Schnellzugstunde ist’s nach dem wunderschönen, leuchtenden Düsseldorf, wo Heine dichtete, Richard Wagner komponierte und Achenbach malte.“ So schimpft heute niemand mehr. Im Gegenteil: Heute sagen Essener sogar im Ausland nicht mehr verschämt „It’s near Cologne“. Stattdessen zählen sie Superlative auf. Essen? Das könnte 2010 Europas Kulturhauptstadt sein. Da steht seit 1928 Deutschlands größtes Kino. Da gehört eine im Bauhausstil gebaute Zeche zum Weltkulturerbe. Da gründeten 1993 Wirtschaftsverbände die größte private Hochschule in Deutschland. Da sitzen neun der hundert größten deutschen Unternehmen. Doch wer all das hört, denkt wohl wie Kisch: Essen hält vielleicht diesen und jenen Rekord, aber es hat kein Flair, keine Seele. „Fabrikvorstadt“, sagte Kisch nur. Das hat zwar nie gestimmt, doch das Vorurteil hält sich. Denn Superlative erzählen nichts von der Seele Essens. Wer die entdecken will, muss Straßenbahn fahren.

Das hat ein großer Schriftsteller 1926 gemacht. Joseph Roth kam nach Essen, fuhr mit der Tram und staunte: „Die Stadt hört nicht auf. Wenn sie aber einmal aufhört, beginnt sofort die andere.“ Essen ist explodiert, von 5000 Einwohnern 1820 auf mehr als eine halbe Million 1926 bei Roths Besuch. Wer heute auf seinen Spuren Essen entdecken will, fährt mit der Straßenbahn 107. Auf den 17 Kilometern zwischen Essen Bredeney und Gelsenkirchen Hauptbahnhof erlebt man in 46 Minuten eine größere Vielfalt als an einem ganzen Nachmittag in Berlin-Mitte. Die Bahn fährt durch Villenviertel, Dienstleistungszentren, Industriebrachen, Kulturmetropolen, Arbeitersiedlungen, Szeneviertel – alles eine Stadt, alles Essen.

Die 107 startet im Essener Süden, auf den Ruhrhöhen im noblen Stadtteil Bredeney. Hier genoss schon Alfred Krupp den Blick auf den Baldeneysee. 1873 bezog er seine Villa Hügel, im Grundbuch der Stadt Essen bescheiden als „Einfamilienhaus“ bezeichnet. Tatsächlich sind die 269 Räume und 28 Hektar Park drumherum ein gewaltiges Symbol der Industrialisierung in Deutschland. Drei Krupp-Generationen lebten dort, heute bringt die 107 vor allem Touristen in die Nähe des Anwesens. Irgendwo in Bredeney (1915 in Essen eingemeindet) wohnen auch die beiden reichsten deutschen Unternehmer der Gegenwart: Karl Albrecht, Eigentümer von Aldi Nord und sein Bruder Theo Albrecht, Eigentümer von Aldi Süd.

Von den Superreichen merkt man an der Haltestelle Bredeney wenig. Gewiss, sieben Boutiquen mit Damenbekleidung entlang der Einkaufsstraße, findet man nicht in jedem Stadtteil. Doch viel auffälliger ist das viele Grün. Am Wochenende marschieren auf dem nahen Wald Menschen in Wanderschuhen zur Straßenbahn, den Rucksack auf den Schultern. Sie kommen vom Ruhrtal hoch. Dort unten liegt der Baldeneysee, wo jedes Jahr die größte deutsche Binnenseeregatta, die Essener Woche ausgetragen wird. Dort unten liegt auch der Stadtteil Werden, dessen steile Gassen nicht nur nach Bergischem Land aussehen, sondern tatsächlich in einem seiner Ausläufer liegen. Da wohnt übrigens Viva-Gründer Dieter Gorny.

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Südlich von Werden, auf den Äckern und sanften Hügeln sieht Essen noch so aus wie vor 150 Jahren. Die Stadt hat damals eine seit dem Mittelalter unveränderte Agrarlandschaft überwuchert. Dörfer wurden plötzlich zu Stadtteilen, die Stadtteile zu neuen Heimaten von Hunderttausenden, die aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien kamen. Die Träume der Zugezogenen trieben den Wachstumsmotor Essens an. Die Träume von einem besseren Leben waren groß, die Stadt wucherte rasant. Essen hatte nie die Zeit, um aus den alten Dörfern, den neuen Siedlungen der Einwanderer, den Industriearealen ein Ganzes zu machen. Die Stadt wuchs einfach über alles hinweg, erfand sich Jahr für Jahr neu. So ähnlich soll es ja in Berlin vor fünf Jahren gewesen sein, als die Menschen in die urbanen Brachen strömten und „eine zärtliche Poesie, eine Verlorenheit, die ganz aus dem Moment schöpfte“ fanden, wie einer der Zugezogenen, Georg Diez, heute schreibt. In Essen gibt es dieses Gefühl seit 150 Jahren. Wer mit der 107 durch Essen fährt, spürt es.

Von Bredeney rollt die Straßenbahn bergab Richtung Norden, einem anderen Essen entgegen. Am Fuß des Bredeneyer Berges gleiten noch Gründerzeitvillen vorbei, dann an der Grenze zu Rüttenscheid Werbeagenturen, ein IT-Dienstleister, der Software für die Schweizerische Post und die Österreichischen Bundesbahnen programmiert. Dann taucht die 107 unter die Erde, schlängelt sich unter Rüttenscheid hindurch, das man aber unbedingt auch über Tage sehen sollte. Warum, sieht man an den Fahrgästen, die am Rüttenscheider Stern einsteigen. Sie sind jünger als in Bredeney und für junge Menschen oft erstaunlich gut gekleidet. Hier tragen junge Frauen oft Handtaschen, selten Sportschuhe, die Männer eng geschnittene Anzüge zu Körpern, denen dieser Schnitt schmeichelt. Das ist Rüttenscheid. Hier trinken in der Mittagssonne auf den Straßen stilbewusste junge Menschen Kaffee, im Café Mondrian sieht man dabei manchmal auch Otto Rehagel. Aber das allein ist nicht Rüttenscheid. Hier ist nicht alles schick. In einer Seitenstraße residiert auf einem Hinterhof Magmafilm, eines der führenden Studios für Pornoproduktionen in Deutschland. Anfang der 90er von Walter Molitor gegründet, von seinem Sohn Nils Molitors zum Global Player aufgebaut. Magmafilm macht Geschäfte mit Frankreich, Los Angeles und machte auch welche mit Sibel Kekilli. Und am Ende der Straße sitzt eine der führenden Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaften Deutschlands. Und gegenüber, in einer alten Pommesbude, eins der besten und wenigen vegetarischen, gar veganen Restaurants im Ruhrgebiet: das Zodiac. Mohammad Golestan Parast hat 1987 eröffnet. Er war aus dem Iran geflohen, hatte in Essen Deutsch gelernt und sich hier den Traum vom eigenen Restaurant erfüllt. Er kam mit derselben Hoffnung auf ein besseres Leben nach Essen wie so viele vor ihm: Erst die Ostpreußen, dann ab 1950 Italiener und Griechen, später Türken. Sie haben die Stadt mit aufgebaut und neu erfunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 60 Prozent des gesamten Stadtgebietes zerstört. Die Industrie blühte bald noch einmal auf, doch schon in den Sechzigern begann die Verschiebung zur Dienstleistungsgesellschaft. Zechen und Hütten machten dicht, neue Jobs entstanden im Handel, in der Gastronomie. Heute arbeiten drei Viertel der Essener Beschäftigten im Dienstleistungssektor.

Eine Haltestelle nördlich vom Rüttenscheider Stern sieht dieses neue Essen am besten aus: Um die 69000 Quadratmeter des Stadtparks gruppieren sich der Saalbau, das Aalto-Theater, die eckigen Glastürme der RAG und der runde Leuchtturm der RWE, Konzernzentralen von Hochtief und Steag. Im Gras dazwischen liegen im Sommer junge Menschen und unter den schattigen Bäumen in der Allee am Rand spielt täglich etwas ältere Herren Boule.

Diese Idylle ist nur ein paar Meter vom hässlichsten Hauptbahnhof Deutschlands entfernt. Hier steigt eine junge Frau mit großer, cooler schwarzer Brille in die 107. Sie wird am Weltkulturerbe Zollverein aussteigen. Natürlich. Anderswo in den Norden, nach Katernberg fahren sonst nur selten Menschen mit coole Brillen. Die Jungen tragen hier eher Baseballkappen, bleiche Jeansjacken mit RWE-Aufnähern (RWE wie die Fußballlegende Rot-Weiß Essen, nicht wie der Konzern, der zufällig auch so heißt), die Alten zu enge oder zu weite Kunststoffjacken. Na und? Jacken machen Menschen nicht liebenswert. Die große Sorge vor der vermeintlichen Kälte aber, mit welcher der italienische Papa in seiner dick wattierten Jacke kämpft, als er seine beiden kleinen Jungs nach langem Hinundher doch die gestreiften Wollmützen abnehmen lässt. Das verschämte Lächeln des alten türkischen Herren mit dem Fischgrät-Mantel und Spazierstock, der die Fahrt über versucht, sein Mobiltelefon richtig klingeln zu lassen. Es brummt nur, er blickt auf, hebt die Schultern und lächelt peinlich berührt.

Nördlich der Essener Innenstadt taucht die 107 wieder aus dem Tunnel auf. Rechts bietet der Jaguar-Händler auch ein paar Cadillacs an, links liegen Schrebergärten. Holzschilder mit eingeschnitzten Namen verraten die stolzen Besitzer. Am Herbertshof stehen alte Männer in zu engen Jacken an einem Trafokasten. Auf dem haben sie ihre Bierflaschen abgestellt, um beim Gespräch besser gestikulieren zu können.

So richtig im Norden fühlt man sich, wenn die Straßenbahn nach der Stiftskirche den Stoppenberger Kapitelberg hinunterrollt. Man blickt auf das Gelände der 2002 zum Weltkulturerbe erklärten Zeche Zollverein. Blasen die Kühltürme, die Gasfackel, die Schornsteine der Kokerei noch die Abfälle in die Luft? Nein, da hängen nur die Wolken tief. Und dann plötzlich zwischen ihnen blauer Himmel. Industriekulturidylle.

Zollverein ist für Katernberg mehr als eine schöne Kulisse. 220 Arbeitsplätzen sind hier bereits entstanden, auf dem Zechengelände blühen im Existenzgründerzentrum „Triple Z“ kleine Firmen auf. Katernberg steckt mit seinen 24000 Einwohnern noch mitten in der Neuerfindung, die Agentur- und Designerstadtteil Rüttenscheid hinter sich hat. Vor zwölf Jahren erst schloss die Kokerei Zollverein. Damit verlor der Stadtteil nicht nur Jobs, sondern seine Identität. Katernberg war mit der Industrie gewachsen, jetzt muss es sich neu erfinden.

Je weiter die 107 nach Norden fährt, desto mehr Sonnenstudios, Telefonshops und Sportwettbüros fallen auf. wie viele Nationen zur Katernberger Mischung gehören, weiß niemand so genau. Am Katernberger Markt heißt das Reisebüro Parsczenski, die Trinkhalle am Abzweig Katernberg heißt Karaüzüm, bietet aber das Standardrepertoire gehobener Revier-Büdchen: belegte Brötchen, Spirituosen, Tabakwaren.

Auf der Strecke nach Gelsenkirchen fährt die 107 an Katernbergs Zechensiedlungen vorbei: Glückauf, Meerbruch, Ottekampshof. Hier steht in manchem Garten noch ein Taubenschlag. Und Sonntag mittags sitzen die alten Taubenväter in der „Zollverein Klause“ beim Bier und schauen, wessen Tauben gewinnen.

Donnerstags findet man die alten Kumpel von Zollverein ein paar Haltestellen der 107 weiter, an der Gelesenkirchener Trabrennbahn, die ja noch fast in Essen steht. Der Verkäufer der „Fachzeitung für Trabrennsport und –Zucht“ (gern gekauft wegen der Wetttipps) am Eingang hat seine eigene Theorie zum Erfolg der Rennbahn: „Jeder zweite von den alten Bergleuten hatte ja Tauben. Und wenn die bei schlechtem Wetter nicht starten konnten, kamen die Kumpels zum Trabrennen.“ Und hier, bei Pommes und Pilsken, mit Blick aufs Rennen und die Bergehalde im Hintergrund ist Essen ganz bei sich selbst. Die Stadt hat viele Seelen, viel Flair und ein einmaliges Lebensgefühl: Sie bricht ständig irgendwohin auf. Wie der Revier-Veteran Peter Erik Hillenbach in seiner Gebrauchsanweisung fürs Ruhrgebiet schreibt: „Ein Ort, ohne Folklore zu sein. Und doch war man hier zu Hause. Wer wegging, konnte sich nie von seiner Herkunft lösen. Das Gebrochene, das halb Entwurzelte und halb Bodeständige, nahm man mit in die Welt. Sogar die Gastarbeiter hatten Heimweh nach diesem Gefühl.“ Oder wie es ein in den Pott heimgekehrter Portugiese sagte: „Was soll ich in Portugal?“

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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